Gnadenfrist
einen kühlen und formellen Ton. »Die Leute reagieren manchmal übertrieben. Ich war dabei, als Petro nach Hause kam und vor verschlossener Tür stand. Eine Nachbarin streckte den Kopf aus dem Fenster und brüllte: ›Sie hat die Kinder zu ihrer Mutter gebracht und dein Abendessen der Katze nachgeworfen.‹ Ich mußte ihm helfen, das Schloß aufzubrechen. Er liebt die Katze; er bestand darauf, reinzugehen und nach ihr zu schauen.«
Sie lächelte. »Jeder Held braucht eine tragische Schwäche.« Zufällig wußte ich, daß sie sich nichts aus Katzen machte. Und ich hatte den Verdacht, daß es mit Helden nicht anders war.
Ich hielt es für das Beste, Haltung zu wahren. »Trotz seines Flehens sah ich mich nicht in der Lage, ihn zu begleiten, um Arria Silvia den Fängen ihrer Mutter zu entreißen.«
»Hast du ihn etwa sich selbst überlassen?«
»Ihm geht es gut. Er hat ja seine Katze …« Irgendwie wurde mir der Hals eng. »Ich wollte mich vergewissern, ob du noch da bist.«
»Ich bin hier.«
»Da bin ich froh.«
Es war früher Nachmittag. Ich hatte mich fürchterlich beeilt, war aber doch schnell in ein Badehaus gegangen. Jetzt war ich sauber. Jeder Fingerbreit an mir war geölt und geschabt, doch ich kam mir immer noch schmutzig vor.
»Hast du dir Sorgen gemacht?« fragte ich.
Ihre dunklen Augen waren mit einer Ruhe auf mich gerichtet, mit der mein Herz nicht mithalten konnte. »Klar mach ich mir Sorgen, wenn ich höre, daß du im Bordell bist«, sagte sie mit leiser Stimme.
»Ich mach mir schon Sorgen, wenn ich überhaupt reingehe.« Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich plötzlich wieder sauber. Ich lächelte sie an.
»Du mußt deine Arbeit tun, Marcus.« Eine leise Ahnung resignierten Amüsements lag in Helena Justinas Blick. Mir kam es so vor, als wäre das Absicht. Während sie auf mich wartete, hatte sie ihre Entscheidung getroffen: Entweder konnten wir uns streiten, und sie würde sich mieser fühlen als zuvor, oder sie konnte sich so verhalten, wie sie es jetzt tat. »Und, wie fandest du das Bordell?« fragte sie rasch.
»Ein übles Loch. Es gab keinen Affen. Eine Senatorentochter würde ich noch nicht mal in die Nähe bringen.«
»Der Affe in dem Bordell, in dem wir damals waren, war ein Schimpanse«, erinnerte sie mich. Ihr Ton war ernst, aber der Ernst war ein Witz.
Manchmal stritten wir uns. Manchmal, wenn sie mich unbedingt zur Vernunft bringen wollte, konnte ich sie regelrecht in Rage versetzen. Bei anderen Gelegenheiten war die Klugheit, mit der sie mich behandelte, geradezu atemberaubend. Ihr Vertrauen in mich war wie ein Brett, auf dem ich einen tiefen Graben sicher überqueren konnte.
Ihre Mundwinkel zuckten ganz schwach. Wenn ich wollte, hätte ich sie mit einem einzigen Blick zum Lächeln bringen können.
Ich durchquerte das Zimmer, stand dicht vor ihr und umschlang ihre Taille. Eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen, passend zu der Rosenknospe an ihrem Kleid. Wie ich vermutet hatte, war der Duft ihres Parfüms nur für denjenigen bestimmt, der ihr nahe genug kommen durfte. Dieses Privileg hatten nicht viele genossen. Ich atmete tief ein. Ein leiser Zimtgeruch wehte mich an, kein beliebiges Parfüm, sondern eins, das ich besonders mochte. Frisch, erst vor kurzem aufgetragen.
Ich genoß es, sie eine Weile zu betrachten. Sie genoß es, mich sanft in alten Erinnerungen und neuen Erwartungen versinken zu sehen. Ohne es zu wollen, hatte ich die Hand sinken lassen und spürte, wie sie ihre Finger mit den meinen verflocht. Ich hob unsere Hände und drückte die ihre gegen meine Brust.
Stille herrschte im Zimmer. Selbst der Straßenlärm unter dem Balkon schien weit weg.
Helena beugte sich vor und streifte meine Lippen mit einem Kuß. Dann gingen wir – ohne Flötenmusik, Weihrauchduft oder klebrig süßen Wein, ohne über einen Preis verhandeln zu müssen, ja, ohne ein einziges Wort – ins Bett.
XXIV
Bevor ich allmählich wieder zu mir gekommen war, hatte meine Schwester Galla es meiner Schwester Junia erzählt, die sofort zu Allia gerannt war, die – da sie es nicht an Victorina weitertratschen konnte, weil die tot war – es Maia erzählt hatte. Maia und Allia konnten sich normalerweise nicht ausstehen, aber hier handelte es sich um einen Notfall; Allia war fast die letzte in der Reihe und brannte förmlich darauf, jemandem meine neueste Untat mitzuteilen. Maia, die als einzige von meinen Schwestern Verstand hatte, entschied zunächst, uns mit unseren Sorgen allein zu
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