Gnadenlose Gedanken (German Edition)
antwortete ich.
„Er ist einfach unberechenbar, und schon zu viele Unschuldige mussten unter ihm leiden. Ich habe dabei kein besonders gutes Gefühl.“
„Was soll mir denn schon passieren? Er kennt mich nicht, er ahnt noch nicht einmal, dass es mich gibt. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass er so dumm wäre, in die Nähe deiner Wohnung zu gehen. Er muss doch fürchten, dass es dort nur so von Polizisten wimmelt.“
„Er ist ganz sicher nicht dumm, aber er hat auch keine Angst vor der Polizei. Er weiß genau, dass sie einfach keine Gefahr für ihn darstellt. Was sollten die Polizisten denn auch schon gegen ihn ausrichten können?“
[Jetzt übertreibt er es aber mit der Angst! Dieses Riesenarschloch ist doch kein Übermensch! Was will er denn schon ausrichten? Gegen ein Dutzend bewaffneter und perfekt ausgebildeter Polizisten ist er chancenlos. Er ist doch nicht unverwundbar!], dachte sie, und ich schämte mich dafür, ihre Gedanken lesen zu können.
Ich hasste diese Fähigkeit umso mehr, je länger ich sie besaß.
Wie hätte ich sie überzeugen können? Also fuhren wir in ein kleines Hotel, und während ich mir den Bauch vollschlug, machte sie sich auf den Weg.
Es sollte ihr letzter werden.
23
Veronika wunderte sich, dass meine Wohnung, die immerhin ein frischer Tatort war, weder versiegelt war, noch bewacht wurde. Sie schrieb es aber dann ihrem übermäßigen Konsum von Krimis zu, und wischte ihre unguten Gedanken schnell beiseite. Als sie die Türe aufschloss, erwachte in ihr eine große Neugier, sie wollte unbedingt wissen, wie ich mit Manfred wohnte.
Das Erste, was sie sah, war die Garderobe. Dort hingen meine Jeansjacke und Manfreds Motorradkluft. Er sah sehr drollig aus, wenn er seinen fetten Körper in die Lederkombi gezwängt hatte. Wie ein mit Wasser gefüllter Luftballon, den nur ein physikalisches Wunder vom Platzen abhielt. Das zweite Möbelstück, was sie kennenlernte, sagte auch noch nicht viel über meinen Wohnungsstil aus. Es war ein unauffälliger Spiegel, der ohne Schnörkel und Verzierungen auskommen musste.
Das dritte, was sie entdeckte war im Spiegel zu sehen. Es hatte weder Kopf noch Beine, obwohl es doch ein riesiger Spiegel war. Dann sah sie eine furchtbar große Hand, die einen Gegenstand festhielt. Zuerst konnte sie ihn nicht genau erkennen. Dann begriff sie. Die Hand hatte sich um den Griff eines Werkzeuges geschlossen. Veronika erinnerte sich sofort an ihre Schulzeit. Dort hatte sie so ein Werkzeug häufig benutzt. Im Werkunterricht. Sie hatte es benutzt, um aus einem formlosen Stück Holz eine Figur zu schaffen. Es war eine Laubsäge.
„Hast du Lust, mit mir zu spielen?“, fragte der Spiegel.
Ein warmer Sonnenstrahl, der mir direkt in das Gesicht schien, kitzelte mich wach. Ich war tatsächlich auf meinem Hotelbett eingeschlafen. Die Strapazen der vergangenen Tage und Wochen hatten meinen inneren Wachhund erfolgreich besiegt. Nachdem ich etwas gegessen hatte, wollte ich mich nur für einen kleinen Moment ausruhen, das Hotelbett hatte mich verführerisch angelächelt. Prompt war ich eingeschlafen, und Veronika hatte mich natürlich nach ihrer Rückkehr nicht aufwecken wollen. Nicht nur ich war nun wieder einsatzfähig, auch mein Schwanz war wieder voller Tatendrang. Er wollte alles nachholen, was er in den vergangenen Monaten versäumt hatte.
Ich schaute mich in dem kleinen Zimmer um, konnte Veronika aber nicht entdecken. Die Bettseite neben mir schien unberührt zu sein. Veronika hatte sich noch keine Pause gegönnt, dabei hatte sie sicher ein noch größeres Schlafdefizit als ich; schließlich hatte sie ja die gesamte Rückfahrt am Steuer gesessen, während ich hin und wieder ein Nickerchen machen konnte. Die Frau hatte wirklich jede Menge Power!
„Veronika?“, rief ich.
Ich vermutete sie im Bad. Frauen waren doch eigentlich immer im Bad, wenn sie nicht gerade am Telefon saßen, oder durch Boutiquen streiften.
Unter der Dusche schien sie aber nicht zu sein, ich konnte kein Wasser rauschen hören.
„Veronika?!“, rief ich erneut, dieses Mal etwas energischer.
Keine Antwort.
Vielleicht besorgte sie sich ja etwas zu essen?
Ich schälte mich aus dem Bett und drehte mich in meinen Rollstuhl, der brav neben dem Bett auf mich gewartet hatte. Ich entschloss mich dazu, mir erst einmal andere Klamotten anzuziehen, irgendwie würde es mir auch ohne fremde Hilfe gelingen müssen. Wo hatte sie denn die Sachen aus meiner Wohnung abgestellt? Meinen
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