Gnadenlose Gedanken (German Edition)
Mutter hatte mich genötigt,
sofort
zu ihr zu kommen.
Da saßen wir nun, und warteten darauf, dass sie sich endlich wieder abregte. Bis dahin hing jeder seinen eigenen Gedanken hinterher. Ich vermutete, dass sich Veronikas` nicht sonderlich von meinen unterschieden. Mein Vater dachte wahrscheinlich wie immer an seine Klienten, die ihn so viel dringender brauchten als sein missratener Sohn, oder seine hysterische Frau.
„Ich hätte doch an einem Infarkt sterben können, oder einem Gehirnschlag erleiden können! Ich habe seit diesem Unglück eine furchtbare Migräne, da kannst du mir glauben!“
Veronika sah mich verunsichert an. Ich kannte meine Mutter ja zwanzig Jahre länger als sie, und sie hoffte in meinen Augen lesen zu können, wie lange dieser Anfall von mütterlicher Tobsucht noch andauern würde.
Ich entschloss mich, das Thema zu wechseln, ohne weiter auf ihre Fragen einzugehen.
„Was genau ist denn in meiner Wohnung mit deinem Pfarrer geschehen, und was hatte der da überhaupt zu suchen?“
„Ich hatte doch wieder diese entsetzlichen Kopfschmerzen, und er war so lieb, deine Blumen zu gießen. Dabei muss ihn dann wohl dieser verrückte Kerl überrascht haben, und Pfarrer Hofgang musste auf dies grausame Art sein Leben lassen.“
Jetzt endlich wurde das Gespräch interessant für mich.
„Was hat denn die Polizei gesagt? Wissen sie schon, wer es war?“
„Ach! Dieser unfreundliche Polizist war so verschlossen, er wollte überhaupt nicht mit der Sprache raus. Aber ich fürchte, sie haben noch keine Spur von dieser Bestie. Der Kommissar sagte mir nur noch, ich solle dich warnen. Du sollst auf gar keinen Fall in deine Wohnung zurückkehren, bis sie ihn gefasst haben!“
Endlich meldete sich auch mein Vater einmal zu Wort.
„Ja, und dann bestellt mich dieser Flegel in sein Büro und lässt mich stundenlang dort warten. Und taucht selber nicht auf! Ruft mich noch nicht einmal an! Unverschämtheit! Unerhört, was sich diese Polizisten herausnehmen! Ich stecke bis über beide Ohren in Arbeit, und der lässt mich dann schmoren wie einen nichtsnutzigen Taschendieb! Mein Chef sollte ihm die verlorene Zeit in Rechnung stellen!“
Ich kannte diesen Kommissar zwar nicht, aber sein Verhalten kam mir schon sehr sonderbar vor. Ich hatte eine böse Ahnung. Vielleicht hatte er die Verabredung mit meinem vielbeschäftigten Vater nicht einhalten können, weil ihm etwas Großes dazwischen gekommen war? Etwas sehr Großes! So von der Größe eines Kolosses.
Ich beschloss, mich telefonisch nach Laschek zu erkundigen, und wollte gleichzeitig in Erfahrung bringen, ob man bereits eine Spur von dem Koloss hatte. Beide Fragen beantwortete man mir negativ. Aber auch Lascheks Kollege wiederholte die Warnung, ich sollte mich vorerst von meiner Wohnung fernhalten. Man nahm den Koloss wenigstens ernst. Vielleicht würde es das Beste sein, wenn ich für eine Weile untertauchte, bis die Polizei ihn erledigt hätte? Fangen und Einsperren würde man ihn mit Sicherheit nicht können. Ich könnte ohne Zweifel bis dahin bei Veronikas Eltern unterkommen, das hatte sie mir bereits angeboten. Doch ich wollte nicht mehr fliehen, wollte mich nicht mehr verstecken. Ich wollte dieses Problem gelöst haben, notfalls musste ich es irgendwie selber lösen. Irgendwie.
Jesus hatte auch ein unangenehmes Problem zu lösen. Seit er die Nase des Dicken vernascht hatte, war einige Zeit vergangen, und er hatte großen Hunger bekommen. Schon seit Stunden harrte er in der Wohnung des Rattenmannes aus.
Nachdem er den Streifenpolizisten, der sicherlich den Tatort bewachen sollte, ausgeschaltet hatte, hatte er die Wohnung nach etwas Essbaren durchsucht. Der Kühlschrank war nahezu leer, aber in den Schränken hatte er einige Nahrungsmittel gefunden. Solche, die auch nach einer mehrwöchigen Abwesenheit noch nicht verdorben sein würden. Vielleicht war der Rattenmann verreist? Auf jeden Fall hatte Jesus trotz seines Hungers keinen Appetit auf diese Sachen. Es war Rattenfutter, und er ekelte sich davor. Er würde halt weiter warten müssen. Er hatte sich schon überlegt, ob er sich einen Happen von dem toten Streifenbeamten gönnen sollte. Oder ob er hinuntergehen sollte, um nachzusehen, ob dieser widerliche Reporter noch in dem Gebüsch lag, wo er ihn versteckt hatte. Aber selbst wenn er nicht gefunden worden war, so würde er doch mittlerweile ungenießbar sein. So groß konnte kein Hunger sein, dass er zum Aasfresser werden würde! Er wollte
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