Gnadenlose Jagd
Veranda sitze?«
»Nein.« Er lächelte. »Und ich verstehe vielleicht weder etwas von Musik noch von bockenden Wildpferden, aber ich bin ein guter Aufpasser. Was hältst du davon, wenn ich im Wohnzimmer bleibe, bis du fertig bist?«
Sie strahlte. »Bist du denn nicht müde?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich geh sowieso nie vor dem Morgengrauen schlafen. Es würde mir gefallen, da drinnen zu sitzen und dir beim Spielen zuzuhören.«
Sie schaute ihn skeptisch an. »Im Ernst?«
»Natürlich«, antwortete er ernst.
»Also gut.« Sie beugte sich wieder über ihr Keyboard. »Danke, Jake …«
»Ist mir ein Vergnügen.« Er ging ins Haus, nahm eine Decke vom Sofa und brachte sie nach draußen. »Aber ich bestehe darauf, dass du dich in die Decke wickelst. Wir sind nicht in Alabama, und die Nächte können hier selbst im August ziemlich kalt sein.«
»Ja, hab ich auch schon gemerkt.« Ohne den Blick von dem Instrument zu nehmen, ließ sie sich die Decke über die Schultern legen. »Komisch …«
Er betrachtete sie einen Augenblick lang. Sie war so vertieft in ihre Musik, dass sie ihn wahrscheinlich gar nicht hörte. Mit ihren Locken und dem weiten Bademantel erinnerte sie ihn an ein kleines Mädchen aus einem Shirley-Temple-Film. Aber an ihrer Konzentration war gar nichts Kindliches. Ihre Wimpern warfen Schatten auf ihre seidenweichen Wangen, und so konnte er ihre Augen nicht sehen, von denen Robert behauptet hatte, die hätte sie von ihm.
Sah Frankie ihm wirklich ein bisschen ähnlich?
Und wenn?
Es … gefiel ihm.
Idiot. Er wandte sich ab, ging ins Haus, setzte sich neben der offenen Tür in einen Sessel, schloss die Augen und lauschte auf Frankies Musik.
Die beiden Pferde galoppierten auf sie zu. Ihr weißes Fell schimmerte silbern im Mondlicht, und ihre blauen Augen funkelten, als sie über das Feld rasten.
Die Pferde wollten sie töten.
Sie musste ganz ruhig stehen bleiben, sagte sich Grace. Wenn sie sich abwandte und versuchte wegzulaufen, würden sie sie verfolgen und zu Tode trampeln. Erst am frühen Morgen hatte sie miterlebt, wie sie einen Stallburschen totgetrampelt hatten, als der in Panik geraten war und versucht hatte, sich in Sicherheit zu bringen.
Ich weiß, ihr könnt nicht anders.
Ich weiß, dass ihr auch Angst habt.
Ich bin keine Gefahr für euch.
Ich bin keine Gefahr.
Ich bin keine Gefahr.
Die Pferde waren inzwischen so nah, dass Grace ihren Schweiß riechen konnte.
Nicht bewegen, redete sie auf sich ein.
Ihr Herz klopfte so heftig, dass es wehtat. Nur noch wenige Meter, dann würden sie sie überrennen.
Sie breitete die Arme aus, darauf bedacht, sie nicht vor sich zu halten, denn das könnten sie als aggressive Geste auffassen.
Keine Gefahr.
Sie galoppierten auf sie zu. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen, aber sie musste sich zwingen, sie offen zu lassen. Vielleicht würde es ihr gelingen, den Hufen auszuweichen, wenn sie –
Bitte! Ich bin keine Gefahr!
Sie bekam keinen Kontakt zu ihnen. Was auch immer die Pferde antrieb, war zu übermächtig. In wenigen Sekunden würden sie sie zertrampeln.
Sie würde sterben.
Ein letzter Versuch. Sie nahm all ihre Kraft und all ihren Willen zusammen.
Ich bin keine Gefahr!
Im allerletzten Augenblick trennten sich die beiden und stoben rechts und links an ihr vorbei!
Sie spürte den Wind und die Erde, die sie mit den Hufen aufwirbelten.
Triumph.
Und Erleichterung. Gott, was für eine Erleichterung.
Keine Zeit für diesen Augenblick der Schwäche. Sie musste schnell handeln. Sie musste sich den Pferden nähern. Sie durfte den beiden keine Zeit lassen, einen neuen Angriff zu …
Aber etwas stimmte nicht. Sie hörte sie nicht mehr. Sie sah Bewegung, aber kein Hufgetrappel. Weiche, lautlose Bewegungen …
Ein Traum, erkannte sie verschwommen, als sie die Augen öffnete. Sie hatte im Schlaf den Abend mit den beiden Pferden auf dem Feld noch einmal erlebt. Kein Wunder nach der Begegnung mit dem Grauschimmel.
Und was sich bewegte, war Frankie, die gerade in ihr Bett stieg, dachte sie schläfrig. »Frankie?«
»Alles in Ordnung, Mom.« Frankie deckte sich zu. »Schlaf weiter.«
»Warst du auf dem Klo?«
Frankie antwortete nicht.
»Frankie?«
»Ich wollte – Die Musik ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich war auf der Veranda.«
Plötzlich war Grace hellwach. »Allein? Das hättest du nicht tun sollen. Du hättest mich wecken sollen.«
»Du warst doch so müde.«
»Das spielt keine Rolle.«
»Doch. Aber es war in
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