Gödel, Escher, Bach - ein Endloses Geflochtenes Band
diesen Symbolen nicht unmittelbar bevorzustehen. Sie ist vielleicht einfach eine unter Milliarden „potentieller“ Reisen, die alle beim Auslesen des Gehirnzustands vorkommen. Daraus ergibt sich eine wichtige Schlußfolgerung: Im Gehirnzustand selbst liegt keine Information darüber vor, welche Route gewählt werden wird. Die äußeren Umstände werden bei der Wahl der Route eine sehr wichtige Rolle spielen.
Was folgt daraus? Es folgt, daß völlig unvereinbare Gedanken je nach den Umständen von ein und demselben Gehirn erzeugt werden können. Und jedes Lesen des Gehirns auf hoher Stufe, das etwas taugt, muß alle solchen unvereinbaren Versionen enthalten. Das liegt eigentlich auf der Hand: daß wir alle Bündel von Widersprüchen sind und daß wir es nur dann fertigbringen, nicht auseinanderzufallen, wenn wir jedesmal nur eine Seite von uns sehen lassen. Die Wahl läßt sich nicht im voraus prophezeien, weil die Bedingungen, die sie erzwingen, im voraus nicht bekannt sind. Was der — richtig gelesene — Gehirnzustand liefern kann, ist eine konditionelle Beschreibung der Routenwahl.
Betrachten wir zum Beispiel Herrn Krebs' Situation im Präludium. Er kann auf verschiedene Arten auf die Wiedergabe eines Musikstücks reagieren. Manchmal ist er fast immun dagegen, weil er es so gut kennt. Ein anderes Mal wird er ganz hingerissen sein, aber diese Reaktion verlangt die richtige Art von Auslösung von außen — zum Beispiel die Gegenwart eines enthusiastischen Zuhörers, dem das Werk neu ist. Vermutlich wird das Lesen des Gehirnzustands des Krebses auf hoher Stufe sowohl die potentielle Begeisterung (und die Bedingungen, die sie herbeiführen) als auch die potentielle Unempfänglichkeit (und die Bedingungen, die sie herbeiführen) enthüllen. Der Gehirnzustand als solcher würde jedoch nicht verraten, was beim nächsten Anhören des Stücks einträte; er könnte nur erkennen lassen: „Wenn die und die Bedingungen vorliegen, wird sich Begeisterung einstellen, sonst ...“
So gäbe die geballte Beschreibung einen Katalog von Ansichten, die unter gewissen Voraussetzungen je nach den Umständen hervorgerufen werden können. Da man nicht alle möglichen Voraussetzungen aufzählen kann, müßte man sich mit denen zufriedengeben, die man als „vernünftig“ ansieht. Darüber hinaus müßte man sich mit einer geballten Beschreibung der Voraussetzungen zufriedengeben, da sie natürlich nicht bis zur Atomstufe spezifiziert werden können — und sollten. Und deshalb kann man keine genauen, deterministischen Voraussagen machen, welche Ansichten aus dem Gehirnzustand durch einen bestimmten geballten Umstand herausgeholt werden können. Zusammenfassend: eine geballte Beschreibung eines Gehirnzustands wird aus einem Wahrscheinlichkeits-Katalog bestehen, in dem die Ansichten aufgeführt sind, die am ehesten induziert (und die Symbole, die am ehesten aktiviert) werden, und zwar durch verschiedene Gruppierungen „höchstwahrscheinlicher“ Umstände, die selbst auf einer geballten Stufe beschrieben werden. Der Versuch, die Ansichten eines Menschen zu ballen, ohne auf den Kontext zu achten, ist genauso töricht wie der Versuch, den Umfang der „potentiellen Nachkommenschaft“ einer einzelnen Person ohne Rücksicht auf den Ehepartner zu beschreiben.
Probleme ähnlicher Art ergeben sich bei der Aufzählung aller Symbole in einem menschlichen Gehirn. Es gibt nicht nur potentiell eine unendliche Anzahl von Wegen im Gehirn, sondern auch eine unendliche Anzahl von Symbolen. Wie bereits gesagt, lassen sich aus alten Begriffen immer neue bilden, und man könnte sagen, daß die durch solche neuen Begriffe repräsentierten Symbole in jedem Menschen schlummernde Symbole sind, die ihrer Erweckung harren. vielleicht werden sie im Lauf eines Menschenlebens überhaupt nicht erweckt, aber es ließe sich behaupten, daß die Symbole dennoch immer vorhanden sind und auf die geeigneten Umstände warten, die ihre Synthese auslösen. Wenn jedoch die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist, würde „schlummernd“, auf diese Situation angewandt, als ein sehr unrealistischer Ausdruck erscheinen. Um das klarzumachen, versuche man, sich „schlummernde Träume“ vorzustellen, die im Schädel hausen, während man wach ist. Ist ein Entscheidungsverfahren denkbar, das bei gegebenem Gehirnzustand „potentiell träumbare Themen“ von „unträumbaren Themen“ unterscheidet?
Wo ist das Gefühl des Selbst?
Beim Rückblick auf das soeben Besprochene mag der
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