Gößling, Andreas
dieser Insel gelebt hat, wie kann er dann heute irgendwas befehlen?«
Pedro schielte plötzlich stärker. Er sah Carmen an und schien zur gleichen Zeit durch sie hindurchzusehen. Für einen Moment hatte sie den unheimlichen Eindruck, dass er direkt in diese ferne Vergangenheit schauen könnte, von der er so selbstverständlich sprach.
»Sie glauben, dass der Canek sich immer wieder aufs Neue verkörpert – so ähnlich wie der Dalai Lama. Er stirbt und seine Seele inkarniert sich einfach in einem anderen Körper.« Pedro zuckte mit den Schultern. »Und Tayasal war das letzte Königreich der Maya«, fuhr er fort. »Die Spanier haben sich jahrhundertelang gar nicht hier heruntergetraut, ins Tiefland mit seinen Sümpfen und Urwäldern.
Ende des achtzehnten Jahrhunderts hat sich dann ein Franziskaner-mönch bis hierher durchgeschlagen. Da waren die Spanier schon zweihundertfünfzig Jahre lang im Land und der Canek saß immer noch in seinem Palast – oben auf der Plaza, wo heute die Kirche steht. Der Mönch meinte die Leute unbedingt zu seinem Gott bekehren zu müssen. Aber die Priester von Tayasal haben ihn einfach ihren Göttern geopfert.«
Einen Moment lang sahen sie sich schweigend an. Durch die offene Verandatür waren das Zirpen von Millionen Zikaden und die melodischen Gesänge der Vögel zu hören. Irgendwo in der Ferne erschallte das dröhnende Bellen eines großen Hundes. Ihren Göttern geopfert. Carmen las in Pedros Gesicht, dass er das Gleiche dachte wie sie.
Aber das kann doch alles gar nicht wahr sein, sagte sie sich dann wieder. Das war doch einfach ein Fiebertraum, oder? Wilde Priester irgendwo da draußen im Urwald, die Pedros Vater und Maria ihren Göttern opfern wollten! Sie warf ihre Haare über die Schulter zurück und lehnte sich wieder gegen den Küchenschrank. Draußen standen noch ihre Pfannkuchen auf dem Tisch. Unmöglich könnte ich jetzt einen Bissen herunterbringen, dachte sie. »Und dann?«, fragte sie schließlich. »Was ist dann passiert?«
Wieder kam es Carmen so vor, als ob Pedro plötzlich stärker schielte. Seine Augen verdrehten sich zu seiner Nase hin, nur ein ganz klein wenig. Aber die Wirkung war wieder ganz sonderbar – er sah sie an und schien doch durch sie hindurchzuschauen, in eine andere Zeit oder Dimension.
»Na ja, das ist immer die gleiche Geschichte.« Pedro holte sein knochenbleiches Blasrohr aus der Hosentasche und ließ es zwischen seinen Fingern wirbeln, ohne hinzusehen. »Die Spanier sind gekommen und haben alles in Stücke gehauen. Und der Canek ist mit seinen Priestern und Kriegern tiefer in den Dschungel geflohen. Und mit dem sagenhaften Schatz von Tayasal. Dort draußen haben sie dann ihr Königreich aufs Neue errichtet – nur diesmal ganz im Geheimen, tief im Wald versteckt.«
Auf einmal glaubte Carmen zu verstehen. Zumindest einen Faden in dieser verworrenen Geschichte hielt sie plötzlich in der Hand.
»Und diese Sachen«, fragte sie, »die Maria von deinem Vater gekauft hat – die stammen aus dem Schatz von Tayasal?«
Doch Pedro zuckte wieder nur mit den Schultern. »Wer weiß«, sagte er.
»Die Priester jedenfalls sagen, dass immer schon jeder, der sich an den heiligen Sachen der Maya vergreift, zur Strafe den Göttern geopfert wird.« Ein Schauder überlief ihn, so sichtbar, dass plötzlich auch Carmen fröstelte. Gänsehaut bei dieser Hitze! Völlig verrückt! Denn gleichzeitig war ihre Haut längst wieder klebrig vor Schweiß. »Zumindest sind diese Sachen wohl wirklich uralt«, fuhr Pedro fort. »Die Sonnenscheibe von Ahau Kin. Die Silbersichel von Ixchel. Und die Jadefigur von Regengott Cha’ac – ein Frosch mit dem Rüssel eines Tapirs, das Ding sieht Furcht erregend aus.«
»Und die Maske des Maisgottes«, fügte sie geistesabwesend hinzu.
»Ja. Wo hast du sie?«
»Draußen im – « Carmen biss sich auf die Unterlippe. Das war knapp. »Suchen wir erst mal nach den anderen Sachen.«
Schweigend starrte Pedro sie an. Wenn ich doch nur Georg erreichen könnte, dachte Carmen. Vorsichtshalber ging sie ein paar Schritte weg von ihrem finsteren Besucher. Er sah aus, als ob er sie gleich wieder schütteln und anschreien wollte. Außerdem wirbelte er immer noch sein Messer – oder Blasrohr oder was es nun eigentlich sein mochte – zwischen den Fingern herum.
»Okay«, sagte er endlich und deutete mit dem Kopf zur Flurtür,
»fangen wir an.«
7
Carmen drückte auf die Klinke, aber die Tür zum Arbeitszimmer ging nicht auf.
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