Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Humboldt, der darüber an seine Frau schrieb: »So fing ich an zu lesen, und ich kann mit Wahrheit sagen, daß ich nicht bloß von dieser Dichtung entzückt, sondern so erstaunt war, daß ich es kaum beschreiben kann. Es erreicht nicht bloß dies Gedicht das Schönste, was er je gemacht hat, sondern übertrifft es vielleicht«.
Das war im November 1823, als Goethe wieder krank darniederlag. Humboldt sorgte sich und küßte Goethe zum Abschied auf die Stirn in der Befürchtung, ihn nicht mehr wiederzusehen. Goethe war niedergeschlagen. Er hatte nicht nur das unvermeidliche Ende dieser Liebesgeschichte zu verarbeiten, es gab auch häuslichen Ärger. August, der um sein Erbe fürchtete, hatte dem Vater böse Szenen gemacht, und Ottilie erlitt einige Ohnmachtsanfälle, zog sich in ihre Zimmer zurück, ließ sich tagelang nicht mehr sehen und reiste dann ab, ohne Abschied. Es verbreitete sich im Haus eine eisige Atmosphäre, die auch die Besucher spürten. Nur Zelter verstand es, mit seiner unbekümmert polternden Art dagegen anzugehen. Seinen Besuch am Frauenplan, wo er den Freund ganz unversorgt, wie es ihm schien, vorfand, schildert er so: »〈Ich〉 komme nach Weimar, fahre vor. Ich bleibe eine Minute im Wagen, niemand kommt mir entgegen. Ich trete in die Tür. Ein weiblich Gesicht kuckt zur Küche heraus, sieht mich, zieht sich wieder zurück. Stadelmann kommt und hängt das Haupt und zuckt die Schultern. Ich frage, keine Antwort. Ich stehe noch an der Haustür; soll man etwa wieder gehn? Wohnt hier der Tod? Wo ist der Herr? trübe Augen. Wo ist Ottilie? nach Dessau. Wo ist Ulrike? im Bette. 〈...〉 Der Kammerrat kommt: Vater ist – nicht wohl; krank, recht krank. – Er ist tot! – Nein, nicht tot, aber sehr krank. Ich trete näher und Marmorbilder stehn und sehn mich an. So steig ich auf. Die bequemen Stufen scheinen sich zurückzuziehen. Was werd ich finden? Was finde ich? Einen der aussieht als hätte er Liebe, die ganze Liebe mit aller Qual der Jugend im Leibe. Nun wenn es die ist: er soll davon kommen! Nein! er soll sie behalten, er soll glühen wie Austernkalk; aber Schmerzen soll er haben wie mein Herkules auf dem Oeta. Kein Mittel soll helfen; die Pein allein soll Stärkung und Mittel sein. Und so geschah’s. Es war geschehn: Von einem Götterkinde frisch und schön, war das liebende Herz entbunden. Es war schwer hergegangen, doch die göttliche Frucht war da und lebt und wird leben«. Zelter weiß zu helfen. Er liest Goethe, da nur die schöne Pein gegen die gewöhnliche Pein hilft, die Elegie vor mit seiner wohltuenden Baßstimme, viele Male.
Die »Marienbader Elegie«. Die meisten Verse entstanden, wie gesagt, bei der Rückfahrt nach Weimar. Als Motto sind die Verse aus dem Tasso vorgesetzt.
Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt / Gab mir ein Gott zu sagen was ich leide.
Humboldt bemerkte nach seinem Besuch, Goethe fühle sich eigentlich nicht mehr mit dem Mädchen verbunden, sondern »mit der Stimmung, die dadurch in ihm aufgegangen ist, und mit der Poesie, mit der er sie umsponnen hat«. Es ist eine Poesie über die Verliebtheit, doch vor allem über das Altern. Von einem Altersunterschied ist nicht die Rede, doch von einer Schwelle, die dem Liebenden zu übertreten verwehrt wird.
Der Kuß der letzte, grausam süß, zerschneidend / Ein herrliches Geflecht verschlungner Minnen. / Nun eilt, nun stockt der Fuß die Schwelle meidend, / Als trieb ein Cherub flammend ihn von hinnen; / Das Auge starrt auf düstrem Pfad verdrossen, / Es blickt zurück, die Pforte steht verschlossen.
Die Elegie klagt über das vergangene kurze Glück –
wie regte nicht der Tag die raschen Flügel / Schien die Minuten vor sich her zu treiben!
– klagt über jene Schwelle des Alters, klagt aber auch über das Veralten, ja das plötzliche Erstarren eines Gefühls, denn das äußere Altsein und Altwerden ist das eine, etwas anderes ist die bestürzende Erfahrung dieses inneren Schwindens:
Und nun verschlossen in sich selbst, als hätte / Dies Herz sich nie geöffnet.
In diesem Augenblick geht es nicht mehr nur um den Verlust der Geliebten, sondern um den Verlust eines Gefühls. Das macht einen großen Unterschied, der auch einst die schwermütige Thematik des »Werther« bestimmte, weshalb denn auch Goethe die Elegie mit dem im Jahr darauf geschriebenen Gedicht »An Werther« (und dem »Aussöhnung« betitelten Abschiedsgedicht für die polnische Pianistin Maria Szymanowska) zur »Trilogie der Leidenschaft«
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