Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Bei dieser Gelegenheit erneuerte und präzisierte er die Einladung an Goethe. Mitte Oktober, so sein Vorschlag, werde der Kammerherr Johann August Alexander von Kalb mit einer Kutsche in Frankfurt eintreffen und Goethe nach Weimar mitnehmen.
Goethe hatte seit dem Frühjahr 1775, als zum ersten Mal von einem Besuch in Weimar die Rede war, einige Zeit gehabt, darüber nachzusinnen. Es war einstweilen noch ein Spiel mit Möglichkeiten gewesen. Nun aber muß er sich entscheiden. An Auguste schreibt er ungefähr zu der Zeit, als er darüber mit sich zu Rate geht:
Wird mein Herz endlich einmal in ergreifendem wahren Genuß und Leiden
〈...〉
empfinden, und nicht immer auf den Wogen der Einbildungskraft
〈...〉
Himmel auf und Höllen ab getrieben werden.
Was die Einbildungskraft vorspiegelt, ist das eine, etwas anderes ist es, sich für eine bestimmte Wirklichkeit zu entscheiden. Durch das Nadelöhr der Entscheidung gezogen, wird aus den vielen Möglichkeiten die eine Wirklichkeit. Anfang Oktober entscheidet er sich für Weimar.
In »Dichtung und Wahrheit« nennt Goethe als entscheidendes Motiv: er habe
vor Lili
flüchten
müssen. Das trifft es nicht ganz. Fritz zu Stolberg gegenüber erklärte er damals, er gehe nach Weimar
keinem Menschen zu Liebe, denn ich hab einen Pick auf die ganze Welt
. Es ist nicht nur Lili, es ist diese ganze Situation – die
ganze
Welt –, der er entkommen möchte. Wichtig ist: es zieht ihn nicht irgendetwas dort in Weimar übermächtig an. Stärker ist das Motiv: bloß weg von hier! Außerdem weiß er ja noch nicht, was sich erst später herausstellen wird: daß Weimar die Entscheidung für ein ganzes Leben ist.
Vorerst handelt es sich nur um eine längere Reise, einen zeitweiligen Aufenthalt bei Hofe. Warum sollte er es nicht auch einmal damit versuchen? Er leiht sich Geld von Merck, es ist noch von keiner Anstellung, von keinen Einkünften die Rede. Auch der Vater muß Geld zuschießen, widerwillig, da er es nicht gerne sieht, wenn der Sohn zu Hofe geht, und gar an einen so kleinen. Weimar hat noch nicht das Ansehen, das es erst mit Goethe bekommen wird. Wieland ist zwar dort, und die Herzoginmutter unterhält einen Musenhof, der es zu einiger Berühmtheit gebracht hat, das ist aber auch alles. Das Schloß ist gerade abgebrannt. Die Bedeutung des achtzehnjährigen Herzogs wird sich erst noch zeigen müssen. Was die Einwohnerzahl betrifft, so ist Weimar im Vergleich zu Frankfurt ein kleines Residenznest, keine große Welt. Es ist also eine Reise von der Stadt in die Provinz, wenn auch in eine ambitionierte. Für Weimar spricht, daß es hinreichend weit weg ist und ein irgendwie anderes Leben verspricht. Ob nur als Moratorium, oder als neuer Aufbruch würde sich erst noch zeigen müssen. An Gottfried August Bürger schreibt Goethe, während er auf das Eintreffen der Kutsche wartet, die ihn nach Weimar bringen soll:
Die ersten Augenblicke Sammlung
〈...〉
die ersten, nach den zerstreutesten, verworrensten, ganzesten, vollsten, leersten, kräftigsten und läppischten drei Vierteljahren die ich in meinem Leben gehabt habe
.
Doch dann kommt die Kutsche nicht. Er wartet über eine Woche, bleibt ohne Nachricht. In Frankfurt hatte er allen Bekannten seine Abreise signalisiert. Er gilt als schon abgereist, und deshalb ist es ihm peinlich, sich zu zeigen, und deshalb geht er nicht mehr aus dem Haus. Er sitzt in der Stube und schreibt am »Egmont«.
Er wird ungeduldig. Was nun? Die Entscheidung, Frankfurt für eine gewisse Zeit zu verlassen, ist gefallen. Dabei soll es bleiben. In der zornigen Ungeduld des Wartens wechselt er kurz entschlossen und kühn die Richtung. Er will nachholen, was er sich unlängst bei der Reise in die Schweiz noch versagte, er will nach Italien. Am 30. Oktober bricht er auf und notiert im Reisetagebuch:
Ich packte für Norden, und ziehe nach Süden, ich sagte zu, und komme nicht, ich sagte ab und komme
! Erste Station ist Heidelberg.
Dort erreicht ihn ein Eilbote, mit der Nachricht, Kalb sei mit der Kutsche endlich in Frankfurt angelangt und erwarte Goethe, um mit ihm die Reise nach Weimar anzutreten. Goethe könnte die Reise nach Italien fortsetzen, aber er kehrt um.
Zwischenbetrachtung: Die unerträgliche Leichtigkeit
Nimmt man zusammen, wie Goethe sich selbst später beschreibt und welche Auskünfte frühe Lebenszeugnisse geben, so sieht man vor sich ein Kind, das erwartet und gewünscht worden war, das von Anfang an Anerkennung und Aufmunterung, Bestätigung
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