Goethe
plötzlich raschen Luft flattern; »und sogar noch keines so gut wie dieses. Sehen Sie!« Sogleich, mit herrischen Fingern, holte Goethe das Blatt aus dem Winde; aber sah es nicht an. Erst in der Herberge, nach dem unerbittlich stummen Heimgang, unter der schwelenden Lampe, entrollte er es. Behutsam, wie es seine Art war. »Hm«, machte er dreimal, viermal. Das Blatt sei wahrhaftig reiner, treuer und geschlossener als jedes bisherige. »Es wird mich« – peinlich genau rollte er es wieder zusammen – »bis an mein Lebensende an eine bedeutende Stunde erinnern!«
»Finden Sie nicht auch, daß die Linie dieses Meeres die Linien dieser Berge geradezu bedingt, und umgekehrt?«
Aber nun hatte Goethe den Blick starr in die Lampe gehängt. »Natürlich,« sagte er endlich. Erhob sich. »Gute Nacht!« Nahm die Rolle, nickte, und ging aus der Tür.
»Schliefen Sie schlecht?« wagte Kniep am Morgen nach langem, verbissenem Zögern zu fragen; sie ritten aus der Stadt hinaus in der Richtung Messina.
»Ausgezeichnet.«
»Oder – war's etwa der fünfte Akt?«
»Der fünfte Akt?« Und schon bäumte sich das Maultier wie ein Araberhengst auf. Aus dem Tor, an dem die zwei Reiter soeben vorbeireiten wollten, stürzte ein Mann hervor, riß beide Arme wie Schwerter in die Luft und schrie mit einer Stimme, wie sie grauenhafter noch niemals vernommen worden war, in das Tor des gegenüberliegenden Hauses hinein: »Sie hat sich ins Meer gestürzt! Sie ist tot!« Im Nu das Volk in der Gasse, an den Fenstern, in den Torbögen. Des Mannes Gesicht aber, wie er die schaurige Wirkung seines Schreis in diesen zauberhaft wachsenden Mienen sah, ward weiß wie Kalk, seine Kleider fetzenhaft dunkel wie Gewitternacht. Unwillkürlich riß er den Degen aus der Scheide, drängte den rollenden Haufen zurück, stieß wieder gegen ihn vor, wiederholte seinen Ruf, als ob er sich seines Sinns erst jetzt recht bewußt würde, von Sekunde zu Sekunde deutlicher, zwingender. Eilte endlich, von der noch ratlosen Menge umbrandet, in den Flur des Hauses hinein, und kam nach einer halben Minute mit zwei Männern in die Gasse zurück. »Sie muß es vom Gärtchen aus getan haben!« heulte er, keinen menschlichen Zug mehr im Antlitz. »Nein!« beteuerte der ältere der zwei Männer, dessen Beine irr schlotterten, »sie ist nicht aus dem Hause gekommen!« – »Bleibe ruhig, Tommaso!« besänftigte diesen der dritte, ein hochgewachsener Mann im Priesterkleide, das schwarze Käppchen auf den eisgrauen Locken, »wir wollen erst hinabgehen und hören!« – »Es ist nichts mehr zu hören!« schrie der Verzweifelte, der die Botschaft gebracht hatte, – in derselben Sekunde krachte der eingeangelte zweite Flügel des Tors wie unter einem Beilhieb, zum zweitenmal bäumte sich das Maultier auf; dieser Mann, der sich das Hemd auf der Brust aufriß, war Prandini!
»Wer hat sich ins Meer gestürzt?« fragte atemlos Kniep, drängte gestachelt sein Tier an das besessene heran. »Sagen Sie! Reden Sie!«
Aber der Reiter über dem häßlich aufwiehernden Grauscheck schien tot; aus dem Strudel der molowärts drängenden Menge blickte ihm, leicht über alle jagenden Köpfe gewachsen, das Auge des Priesters ins Auge.
»Wer ist der Mann, der so unverwandt . . .?«
»Der fünfte Akt!« stammelte, ohne sich rühren zu können, der vom Auge Durchbohrte.
»Aber wer hat sich ins Meer gestürzt? Ich verstehe nicht! Erklären Sie!«
»Der fünfte Akt!« lallte der Verhexte und machte mit einem Spornstich Kehrtum.
»Wohin wollen Sie? Um Gotteswillen, was ist nur?«
»Der fünfte Akt!« hauchte der Marmorne und spornte zum zweitenmal. Der Weg mit der Menge, durch die Menge, dieser Weg war gesperrt. Aber es gab einen zweiten: zurück durch die Stadt, über die Hügel hinab, an die Mole. Den ritt er. Kniep fluchend ihm nach. Als sie nach gieriger Hetzjagd über Mauerbrocken, Gräben, Buckel, Felder und Gärten an die Mole hinabkamen, schaukelte ein schwarzes Schiff auf der wütenden Woge vor den Quadern. »Was sollen wir denn unten?« schrie Kniep dem schnell Abspringenden nach. »Bleiben Sie doch sitzen, wir sehen besser von oben!« Aber der andere war nicht mehr zu halten; schon unten im Pflaster. Wie von Feuer entbrannte sein Antlitz, hoch auf wuchs die Gestalt, als er durch die Stauflut der Menschen hinabstieg an die Lockung des Schiffes. Riesenhaft – toll wehte der Wind in seinem pechschwarzen Mantel – stand der Priester am Buge; in den Armen die tote Nausikaa. Wimmernd
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