Goethe
Hütten und Häuser dahinter hatten wieder ihr Schicksal.
»Gelang es mir,« fuhr der Jüngling, der die Flöte gar nicht hörte, wie im Traum fort, »zu wissen, ganz genau zu wissen: nein, Fritz, diesmal liebst du eine Seele! Und das machte mich ungeheuer glücklich! Ich wurde stolz auf mein Herz, ich fühlte auf einmal, daß wir Männer gewöhnlich unverantwortlich wild und wüst leben und die Fähigkeit zu den höchsten Freuden des Lebens zugleich mit unseren reichsten Kräften zertreten. Ich sehnte mich also auch in dieser Nacht nicht etwa darnach, einen Leib zu besitzen, eine Lust zu genießen, sondern . . . .«
»Ich verstehe!«
»Ich fürchte, daß Sie es nicht mehr verstehen! Ich sehnte mich nur nach ihr! Sie aber – kam nicht! Ich schlief gegen Morgen ein, und als ich erwachte, ein Lakai an die Tür pochte und ein silbernes Tablett mit dem üppigsten Frühstück hereinbrachte, schrie ich den Mann wie einen Dieb an. Es war ein solch flammender Zorn, eine solch beißende Bitterkeit, ein so tobsüchtiges Unglück in mir, ich wußte nicht mehr ein und aus. Ich hatte ihr einmal, streng absichtlich, angedeutet, daß ich mich, schon um nur endlich einmal ganz in den Tempel einziehen zu dürfen, den ich ihr aufgerichtet hatte, und keinen Gott neben ihr mehr zu kennen, so armselig darnach sehnte, daß sie mir einmal, ach, endlich einmal nur den bescheidensten Beweis davon gebe, daß sie mich liebte; denn, liebte sie mich, dann wußte ich doch auch: darf sie mir auch nicht angehören, nach ihrem Gefühl könnte sie mir angehören; und das hätte mir genügt. Und nun kam sie nicht! Also war auch sie wie die anderen! Denn sie weiß, wie sie mit einem einzigen Augenblick, durch das bloße Bekenntnis ihrer Entschlossenheit, der Konvention ein Opfer zu bringen, mich für immer erlösen könnte, – und tut es nicht! Weil sie nicht den Mut dazu aufbringt, nicht den Schwung dazu aufbringt, um meine brennende Sehnsucht, – die sie ja zu ihr hinüberbetteln hören mußte! – zu erfüllen; und ihr nicht das Gewissen, – denn ich sehnte mich nach nichts, was ihr Gewissen belasten konnte – sondern die Sitte mehr galt als mein verlorenes Herz! Und da, mit einem Griff – ich erinnere mich so haargenau, als ob es heut wäre – den pfauenblauen Brokat meiner Bettdecke ritsch ratsch von oben bis unten entzweigerissen und die Decke abgeworfen, um aus dem Bett zu springen, – und in diesem Augenblick stand sie da!«
»Helena!« In einem Blitz von Licht erinnerte sich Goethe jener rasenden Begier auf der Terrasse des Hamiltonschen Casinos in Neapel, Helenen zu sehen. Und im Blitz eines Bildes, das gegenständlich war von den Zehen Helenas bis zum Scheitel Helenas, sah er Helenen, wie sie dem Jüngling erschienen sein mußte. »Und?« rief er atemlos. »Und?«
Aber nun stieg der Hirte mit seinen weißen und gelben Schafen über die blaue Halde zum nördlichen Ufer des Sees ab. Und sobald die Schafe auf der Klippe standen und eines neben dem andern mit sinnlosen Augen hinabstierten in die Flut, ließ er sich auf dem Felsen nieder und blies feuriger, voller, kräftiger, und plötzlich flog sein Lied – welches Lied? – über Sonne und Schatten, als wäre es alles, allmächtig.
»In einem Mantel aus himmelblauer Seide stand sie da,« hob der Verklärte wieder an. »Hell war ihr Gesicht wie der Morgen, als es mich anlächelte. Schwarz wie meine Nacht darüber das Haar. Als sie das fassungslose Erstaunen sah, in dem ich zitterte wie vor einem Wunder, schlich sie ganz leise und rasch näher und lächelte: »Nicht Francesca kommt; nur ein Jüngling! Der Jüngling!« Und warf im nächsten Augenblick den Mantel ab, stand, als Page gekleidet, vor mir . . . .«
»Ich kann sie nicht beschreiben!«
Menschen, Tiere, Bäume, Steine, Himmelsflitter, wisset ihr nicht, sang das Lied des Hirten auf dem Felsen, daß aus dem liebenden Herzen allein die allmächtigen Rauchopfer aufsteigen in die Höhe der Äther? Aus dem liebenden Herzen allein auch die zauberkräftigen Flammen hinabschlagen in die Schlünde der Erde? Das liebende Herz allein das Unmögliche möglich macht, den Staub den Sternen vermählt und alle Geheimnisse gläubig löst, die wie schlafende Lider auf den Augen der Welt liegen? Wißt ihr es nicht? »Und?« heischte Goethe brennenden Antlitzes.
»Und?«
»Wie soll ich es noch wissen! Auf einmal saß sie, saß der Jüngling auf meinem Bette, schlang die Arme – die Arme Francescas! – um meinen Hals, legte das
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