Goethe
Bildungen des Vorwurfs abgerufene, höchste Gleichgültigkeit sei im Handeln und Wirken nicht anzutreffen. Unsere Empfindungen – in denen sich ja Wirken und Handeln zeigen – stören darum, meinte er, diese Stille. Nun muß man gewiß zugeben, daß Winckelmann, lebte er heute noch, in manchem seine Ansichten weiter ausgebildet hätte!«
»Sehr richtig!« lobte Goethe eindringlich.
»Gerade die erweiterte Kunstgeschichte lehrt unwiderleglich, daß die Griechen zwar allerdings die Schönheit der Form als oberstes Gesetz ihrer Kunst befolgten, dabei aber keineswegs das Bedeutende, Charakteristische vergaßen. Im Gegenteil: sie schritten nicht etwa von der Schönheit zum Charakteristischen vor . . .«
»Wie es Mengs machen wollte,« fiel erbarmungslos Hirth ein, »aber nicht konnte!«
»Sondern vom Charakteristischen zum Schönen!«
»Wie es Raffael getan hat, und Michelangelo nicht vermochte!«
»So laßt ihn doch ausreden!« Mit Gewalt trennte Tischbein die unerbittlichen Feinde.
»Die Griechen ahmten erst nur nach,« begann Meyer freundlich von neuem. »Dann lernten sie die Anatomie kennen. Dann fand sich mählich eine ganze Wissenschaft um ihr Handwerk zusammen. Dann ward der Stoff immer leichter und restloser besiegt. Endlich bildete sich als Vorwurf der Charakter. Aus diesem der edle. Aus dem edeln der edelste. Was war nun natürlicher, als daß der edelste Charakter nur in der schönsten Form seinen Ausdruck finden konnte?«
»Und diesen Weg« schwor Reiffenstein in den vergötterten Olymp empor »ist Raffael gegangen!«
»Und Michelangelo« donnerte Hirth in den Terrazzo hinab »ging ihn weiter. Vom Ausdruck des Edlen zum Ausdruck des Grandiosen!«
»Auf Kosten der Schönheit!«
»Das nenne ich eben: weiter!«
»Daß es ›weiter‹ ist,« lächelte Meyer seraphisch, »ist keine Frage! Frage ist nur: ob es dieselbe oder eine höhere Art der Kunst war, oder nicht?«
»Und das bejahe ich eben!«
»Den Griechen und Raffael war die schöne Form das notwendige Mittel zum Ausdruck schöner Gedanken. Raffael blieb also, erstens, der Natur stets nahe; zweitens, mit der Wahrheit im Bunde; und, drittens, – aus eben diesen Gründen – immer auch schön! Michelangelo hingegen . . . .«
»Ignoriert die Natur!« Rasend fletschte Hirth die Zähne.
»Nein! Aber geht über sie hinaus!«
»Lügt wie ein Harlekin!«
»Nein! Aber an Stelle des Wahrhaftigen, Treffenden zeigt er das Auffallende, Seltsame!«
»Und ist eine häßliche Kröte!«
»Nein! Aber . . .« Suchend wanderte Meyers Auge vom einen zum andern. »Sie haben es vorhin wahrscheinlich nicht bemerkt: als der Windstoß das Fenster aufriß, flog ein Bündel Zweige vom Ölbaum da draußen herein und peitschte einen Augenblick lang den Leib der Psyche. Es mag nun vielleicht meine übergroße Empfindsamkeit daran schuld sein, . . . bitte, Herr Geheimerat!«
Wie eines ungeheuren Sieges sicher leuchtete Goethe. »Ich habe nicht ein Silbchen gesagt, Herr Meyer!«
»Mit einem Wort: der Ölbaum da draußen, der Himmel da draußen, Rom da draußen, wir da herinnen . . . .«
»Ich möchte wahrhaftig wissen,« drehte Hirth hohntriefend um auf dem Absatz und floh schützwärts von dannen, »wo anders sich ein besoffener Frankfurter milieugerechter ausnähme als hier!«
»Alles Lebendige, Natürliche, Wahrhaftige, Schöne,« verkündete voll Feuer nun Meyer, »– es paßt zu diesen Bildern da oben! Und nur deshalb, und nicht, weil er gegenüber den heidnischen Griechen, die bildhauerten, der römisch-katholische Maler war, scheint es uns, daß wir Michelangelo anders bewerten dürfen als den göttlichen Raffael! Weil er die heitere Eleganz nicht hat, die nur von der charakteristischen Schönheit , – nur von der Harmonie im charakteristischen und schönen Kunstwerk erzeugt wird!«
»Ich dächte aber,« wagte da Moritz – jetzt konnte auch er nicht mehr still sein! – zu lispeln, »daß jede Zeit ihr eigenes Urteil über Kunst hat? Daß also wir Heutigen . . .« Aber wie eine Parze schnitt ihm Reiffenstein das Wort entzwei. Mit Sturmlust: Raffael oder Michelangelo? wogte sein Busen, in der Seligkeit über den erfochtenen Sieg, noch immer. »Aber jetzt, Exzellenz,« rang er komisch die Hände, » müssen Sie Farbe bekennen! Müssen Sie uns sagen . . . .«
»Ich sagte schon: ich habe keine Meinung.«
»Pflichten Sie Meyern nicht bei?«
Als ob ihm der Zeugesaft der gesamten Natur in den Adern flösse, mit dionysischem Lachen
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