Goettin - Das Erwachen
„Ganz ruhig! Atme, Kätzchen." Sie atmete ein paar Mal tief und schloss die Augen. Der Wolf war Liam gewesen. „Du hast mich zu Tode erschreckt!" Als sie ihre Augen wieder öffnete, war der Wolf wieder da. Er öffnete sein Maul und schleckte ihr quer über das Gesicht. Dann ging er ein paar Schritte zurück und wartete, bis sie wieder aufgestanden war. Nun bemerkte sie, dass sich zwar die Augenfarbe verändert hatte, aber nicht die Art wie der Wolf sie ansah. So sah sie Liam auch immer an. Auch wenn sie jetzt wusste, dass Liam vor ihr saß, machte ihr der Wolf Angst.
Die nächste Attacke schockierte sie nicht mehr so sehr. Trotzdem schaffte sie es nicht, zu reagieren. Wieder landete sie auf dem Hintern und wieder schleckte der Wolf sie ab. Sie brauchte einige Versuche, bis sie es zumindest schaffte, ihre Arme nach vorne auszustrecken. Immer wenn sie ihn nicht abwehren konnte, schleckte der Wolf über ihr Gesicht. Dass, das die Art war, wie Hunde ihre Zuneigung bekundeten, wusste sie, ignorierte es aber. Sie hatte im Moment wirklich andere Probleme! Nach einer gefühlten Ewigkeit konnte sie rechtzeitig reagieren. Bevor der Wolf ihre ausgestreckten Hände erreichte, bekam er einen unsichtbaren Schlag und flog einige Meter zurück. Er krachte unsanft auf den Boden, sprang aber sofort wieder auf und griff erneut an. Erst als sie es viele Mal in Folge geschafft hatte ihn zurückzuschlagen, blieb der Wolf liegen. Sie zuckte zusammen. Sie hatten ihn doch nicht verletzt? „Liam! Geht’s dir gut?"
Er hatte sich wieder verwandelt und stand auf. „Ja, alles bestens. Ich bin hart im Nehmen." Er ging zu seinen Kleidern und zog sich an. „Was wolltest du mir damit beweisen?", fragte sie ein wenig verärgert. Er zuckte mit den Schultern. „Ich wollte dir nichts beweisen. Ich wollte sehen, wie du dich wehren kannst, wenn dir etwas Angst macht und du unter Stress stehst." Sie war müde und ihr Hintern tat ihr weh. „Können wir jetzt gehen?"
Fertig angezogen, grinste er. Liam streckte seine Arme nach vorne und sagte: „Klar, spring auf!" Was? Na toll! Sie hatte nicht darüber nachgedacht, wie sie hier wieder wegkommen sollte. Sie zögerte einen Moment, bis ihr klar wurde, dass es bereits dämmerte und sie sonst ewig brauchen würden. Grummelnd ging sie auf Liam zu und ließ sich von ihm hochheben.
Wenigstens hatte sie nun ein bisschen Zeit, um nachzudenken. Das kam in den letzten drei Tagen irgendwie zu kurz. Es waren erst drei Tage vergangen und es fühlte sich wie ein ganzes Leben an. Sie war sehr mächtig. Diese Kraft spürte sie in sich. Sie war mächtiger, als dieser riesige Wolf. Das wusste sie nun auch und jedes Faser ihres Körpers freute sich auf diese neue Welt. Sie wollte sie sehen, sie entdecken und in ihr leben. Nichts an diesen letzten Tagen, die ihr Leben auf den Kopf gestellt hatten, verunsicherte sie so sehr, wie die völlig unpassenden Gefühle für den Mann, der sie sanft in den Armen hielt. Wohin sollte das führen? Was wollte er von ihr?
Moment! Diese Frage konnte sie sich doch beantworten lassen. Sie atmete durch und der Wunsch nahm in ihr Gestalt an.
Wieder war sie in seinem Kopf. Sie ließ seine Erinnerungen an sich vorbei ziehen, wenn sie sich vor den letzten drei Tagen gesehen hatte. Sie spürte Zuneigung, sie spürte seinen Drang ihren Duft zu erschnüffeln, aber auch den Drang sie zu schützen. Sie spürte seine Freude, wenn sie da war und sie spürte seine Enttäuschung, weil sie in ihm nie einen Mann gesehen hatte. Sie zog sich zurück. Ihr wurde bewusst, dass Liam stehen geblieben war und öffnete die Augen. Sie waren immer noch im Wald. Verwundert sah sie in Liams Gesicht. Er funkelte sie wütend an. „Es ist sehr unhöflich im Kopf andere Leute zu wühlen! Und es ist außerordentlich dämlich solche Gefühle aufzurufen, während man sich anschmiegt!" Er hatte recht! Das war wirklich dämlich gewesen. Er setzte sie ab, ohne sie dabei anzusehen. „Hast du gesehen, was du wissen wolltest?" Noch bevor sie die Worte aussprach, wusste sie, dass es eine sehr fadenscheinige Ausrede war. „Du bist doch mein großer Bruder ..." Sein Geschichtsausdruck brachte sie zum Schweigen. Seine Augen waren wieder gelb geworden und seine Kiefer zuckten unablässig. Er wies in eine Richtung und sagte mit zusammengepressten Zähnen: „Geh zum Auto!" Ohne darüber nachzudenken, drehte sie sich in die angezeigte Richtung und lief los. Sie traute sich nicht, sich noch einmal umzudrehen, aber nach ein
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