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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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und dass Lossing zum »landwirtschaftlichen Fachberater« für China ernannt wurde. Vergib mir meine eigennützige Freude, aber das ist eine wunderbare Neuigkeit. Ich kann es kaum erwarten, Dich wiederzusehen.
    Ich denke seit einiger Zeit über eine Rückkehr nach Chinkiang nach. Das Leben in Shanghai ist aufregend, aber ich fühle mich wie ein Lotosblatt, das wurzellos auf dem Wasser schwimmt. Jeden Tag rede ich davon, meinem Land zu helfen, doch in Wahrheit habe ich kaum etwas bewirkt. Um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, verrichte ich niedrige Arbeiten, und die restliche Zeit verbringe ich damit, über Politik zu diskutieren und nach Reformen zu rufen. Die Republikanische Partei hat ein Forum, auf dem man sein Debattiertalent unter Beweis stellen kann. Das ist für all jene gut geeignet, die sich gern selbst reden hören.
    Ich fürchte, ich werde zur Teehaus-Revolutionärin. Mir wird zunehmend bewusst, wie sehr ich mich von meinen Freunden unterscheide, die schon ihr Leben lang Gelehrte oder Studenten sind. Ich habe in den letzten beiden Jahren viel gelernt, aber in meinem Herzen bin ich immer noch das Mädchen aus der kleinen Stadt Chinkiang. In meiner Welt dort hat es keine Bücher gegeben. Ich habe gearbeitet, manchmal nur, um etwas zu essen zu haben. Diese Erfahrung macht mich ungeduldig gegenüber Idealisten und Träumern, auch wenn sie noch so gute Absichten haben. Viele meiner Gefährten lassen sich nicht davon abhalten, sich in Windeseile selbst zu zerstören. Wie können sie ihr Land retten, wenn sie selbst so verloren sind?
    Du hast mir einmal vorgeschlagen, »die Leute so zu nehmen, wie sie sind«. Das versuche ich. Ich habe Dich immer um Deine Fähigkeit beneidet, die bloße Gegenwart von Menschen wohltuend zu finden. Du siehst Humanität und Freundlichkeit in allen Menschen – ich sehe beides nur selten. Zum Beispiel in Deiner Mutter.
    Du bist ganz anders als Deine Eltern. Ich habe Dich gut verstanden, als Du einmal sagtest, Du »lebst in vielen Häusern«. Ich versuche, die Mauern meiner eigenen Kultur niederzureißen. Als Chinesin bin ich anfällig für bestimmte Stimmungen, versuche aber, nicht so sauertöpfisch zu werden wie unser berühmter Chinkianger Essig. Ich liebe mein Land so sehr, dass ich es ihm übelnehme, nicht so zu sein, wie ich es gern will.
    Ich überlege, eine Lokalzeitung zu gründen, wenn ich nach Chinkiang zurückgehe, und zähle auf Deine Mitarbeit.
     
    Alles Liebe
    Weide

11 . Kapitel
    D
er Bahnhof in Nanjing gab Zeugnis von Krieg und Leid. Das Gebäude, 1894 erbaut und seitdem mehrere Male zerstört und wiederaufgebaut, hatte einen kleinen Warteraum und einen Fahrkartenschalter.
    Carie war eigentlich nicht gesund genug, um zu reisen, wollte aber dabei sein, wenn Pearl aus dem Zug stieg. Die Aussicht, die Hochzeit ihrer Tochter auszurichten, hatte ihr neue Kraft gegeben.
    Der Bahnhofsvorsteher war Christ. Er lud Carie ein, sich in dem Zimmer, wo er die Fahrkarten verkaufte, auszuruhen. »Es ist zwar schon März, Madame, aber die kalte Luft im Warteraum tut Ihnen sicher nicht gut.«
    Carie nahm das Angebot erst an, als der Mann ihr sagte, dass der Zug Verspätung hatte.
    Wir warteten. Nach zweieinhalb Stunden hörten wir den Zug kommen, und ich rannte aufgeregt hinaus.
    Die alte Dampflok stieß Rauch aus und machte einen furchteinflößenden Krach. Mein Herz schlug wild vor Aufregung. Vor vier Jahren hatten Pearl und ich uns das letzte Mal gesehen. Ich wusste, dass ich nicht mehr der gleiche Mensch wie damals war. Ich trug schwarze Lederstiefel und ein modisches blaues Jackett mit Stehkragen und passendem Rock.
    Der Zug hielt. Passagiere stiegen aus. Ich entdeckte meine Freundin sofort, doch etwas stimmte nicht. In dem Moment nahm ich das erste Mal bewusst wahr, dass Pearl Ausländerin war, denn sie stach aus den Chinesen heraus. Sie war in Begleitung von Lossing Buck, einem hochgewachsenen Mann mit braunen Haaren. Ich beobachtete, wie Pearls Blick über die wartenden Menschen glitt – und an mir hängen blieb.
    »Weide, bist du das wirklich?«, rief sie. »Ich erkenne dich kaum wieder, eine elegante Dame aus Shanghai.«
    »Pearl!« Ich umarmte sie. »Du bist es wahrhaftig – es ist kein Traum!«
    Pearl drehte sich um und stellte mir Lossing Buck vor.
    Wir schüttelten uns die Hände, doch mein Blick blieb auf Pearl haften. In dem blauen Jackett und engen Rock sah sie aus wie ein Fotomodell in einer Zeitschrift aus dem Westen. Am Schnitt ihrer Kleidung sah ich, dass

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