Goldfasan
genommen worden. Das aber schien nicht der Fall zu sein. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder hatte Manni das Paket bei seiner Flucht irgendwo versteckt. Das war eher unwahrscheinlich, denn er dürfte kaum eine Gelegenheit dazu gehabt haben. Oder aber es war Manni gelungen, dem fremden Jungen das Päckchen zu übergeben. Und der war anscheinend unerkannt entkommen. Der Auftrag, den der Rote ihm erteilt hatte, war also vermutlich aufgeführt worden. Aber um welchen Preis! Erwin wurde schlecht. Er sprang auf und schaffte es gerade noch bis zur Toilette.
Später lief Erwin ziellos durch die Gegend. Sein schlechtes Gewissen peinigte ihn. Manni war tot und er war schuld. Er würde Mannis Mutter nie wieder unter die Augen treten können.
Wenn er selbst den Auftrag ausgeführt hätte, wäre Manni noch am Leben. Aber hatte er eine Alternative gehabt? Er hätte den Roten bitten können, jemand anders zu beauftragen. Aber vielleicht wäre der Rote selbst auf die Idee gekommen, Manni zu schicken. Hätte. Wäre. Alles nur Spekulation. Manni war tot. Und er war schuld. Das war die Realität.
Noch später schlugen die Schuldgefühle in Wut um. Wut auf sich selbst, aber noch mehr auf die Gestapo, auf die ganze Nazibande. Plötzlich stand sein Entschluss fest.
Er würde nicht weiter tatenlos zusehen.
Er würde etwas unternehmen.
19
Montag, 5. April 1943
N eben dem Klingelknopf am Haus stand: Nieper. Golsten stutzte. So hieß auch der Kreisleiter der NSDAP in Herne. Hatten in dieser Straße alle Herner Parteibonzen ihr Nest?
Er drückte auf den Knopf und ein lauter Klang ertönte. Kurz darauf öffnete ein Mädchen von vielleicht zwölf Jahren die Tür. Es trug einen dunkelblauen Rock und eine weiße Bluse. Dazu ein schwarzes Halstuch mit Lederknoten. Die obligatorische Uniform des Bunds Deutscher Mädel.
»Heil Hitler«, rief sie mit heller Stimme und hob den rechten Arm. »Meine Mutter kommt gleich. Sie muss eben noch das Geschirr wegräumen.« Sie musterte Golsten ohne Scheu. »Was wollen Sie?«
Bevor Golsten antworten konnte, trat eine Frau an die Seite des Mädchens. Auch sie trug Blau und Weiß, allerdings kein Halstuch. »Bitte?«
Golsten zeigte seine Marke und nannte seinen Namen. »Sind Sie Frau Nieper?«
»Ja. Hannelore Nieper.« Ihre Stimme zitterte leicht. »Bitte kommen Sie doch herein – Elke, du gehst auf dein Zimmer.«
»Aber Mama …«
»Keine Widerrede.« Hannelore Nieper wandte sich wieder Golsten zu. »Wir sollten ins Wohnzimmer gehen. Da sind wir ungestört.«
Dort lehnte Golsten den ihm angebotenen Kräutertee dankend ab. »Ich habe einige Fragen zu Munders von nebenan.«
»Zu Munders?« Hannelore Nieper riss den Mund auf. »Aber das sind doch gute Parteigenossen. Warum holt die Gestapo Erkundigungen über diese Familie ein?«
Immer wieder die gleiche Leier. Gelassen sagte Golsten sein Sprüchlein auf. »Und genauer gesagt geht es nicht um Munders, sondern um die Polin, die bei ihnen gearbeitet hat.«
»Diese Polackin? Die ist doch abgehauen, oder?«
»Was wissen Sie darüber?«
»Eigentlich nichts. Ich habe diese Fremdarbeiterin von Zeit zu Zeit gesehen. Allerdings habe ich nie ein Wort mit ihr gewechselt. So weit kommt das noch, dass ich mich mit einer Polin abgebe.«
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
Hannelore Nieper legte ihre Stirn in Falten. »Da muss ich nachdenken. Warten Sie, das war vor zwei Monaten. Oder ist es doch schon drei Monate her? Ich weiß es nicht mehr genau. Charlotte, ich meine, Frau Munder, hat mir vor einigen Tagen erzählt, dass die Polin verschwunden ist. Aber sie hat ja glücklicherweise schon wieder Ersatz bekommen.« Sie seufzte. »Tja, wer an der Quelle sitzt … Wissen Sie, ich habe auch schon mal versucht, eine Hilfe zu bekommen. Das große Haus macht viel Arbeit. Aber leider. Mir fehlen die Beziehungen.«
»Sind Sie denn nicht verwandt mit Karl Nieper?«
»Doch. Aber nur über mehrere Ecken. Der Herr Kreisleiter ist ein Cousin zweiten Grades meines Mannes. Und seit mein Mann im Felde steht … Ich habe zu meinem Bedauern nur sehr sporadisch Kontakt zu dem Herrn Kreisleiter.«
Also doch kein Nest.
»Können Sie sich einen Grund vorstellen, warum die Polin weggelaufen ist?«
»Nein. Überhaupt nicht.«
»Sie sagen das so bestimmt. Woher nehmen Sie diese Gewissheit?«
»Die hatte es doch wirklich gut bei Munders.«
»Ist sie jemals geschlagen worden?«
Hannelore Nieper ließ sich mit ihrer Antwort einen Wimpernschlag zu viel Zeit. »Gott
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