Goldmacher (German Edition)
sie, wenn sich Alexandra bei ihnen beschwerte. Und auch Rosi hatte seit dem Unfall von Franz keine Zeit mehr. Erst begleitete sie ihn in die Rehazentren, jetzt um die halbe Welt. Rastlos wie einst sein Vater, war er über Wochen unterwegs.
Weil der Franz gelähmt sei, müsse sich sein Ego in die Lüfte erheben und um den Globus fliegen, hatte Liane einmal zu Alexandra gemeint. Liane war die einzige ihrer Enkelinnen, die regelmäßig jede Woche auf den Amselhof kam.
Heute saß Alexandra am Fenster, und wie einst auf Franz wartete sie nun auf Liane. Sie erwartete sie zum Mittagessen und würde noch eine ganze Weile auf sie warten müssen, denn es war noch recht früh am Morgen.
Der Hausmeister und seine Frau, die in der Dachwohnung über ihr lebten, fegten im Hof das erste Herbstlaub mit einem Rechen zusammen. Rosi hatte die Dachwohnung nur für das Hausmeisterpaar renovieren lassen. Die Frau kümmerte sich um den Haushalt und der Mann um Hof und Garten, beide zusammen versorgten auch sie. Am Anfang noch Plus III. , der vor einem Jahr gestorben war. Einen vierten würde es nicht mehr geben, hatte sie beschlossen.
Auch das Hausmeisterpaar hatte keine Zeit. Sie hätten zu viel zu tun, stöhnten der Mann und die Frau jeden Tag. Morgens bereiteten sie ihr eilig das Frühstück, dann das Mittagessen und später das Abendbrot zu. Sie stellten, obwohl Alexandra beides nicht wünschte, tagsüber das Radio an, damit es nicht so still und stumm sei um sie herum, wie sie sagten. Und aus dem gleichen Grund abends das Fernsehen.
Es fiel Alexandra zunehmend schwerer, beides wieder auszustellen, sie konnte sich immer schlechter bewegen, ihre Gelenke hatten sich versteift, und weil sie ohne Plus nicht mehr spazieren ging, versteiften sie sich noch mehr. Das wiederum schränkte ihren Radius ein, und so bewegte sie sich eigentlich nur zwischen ihren beiden Fensterplätzen hin und her, zwischen der Aussicht in den Hof und dem Blick in die Einfahrt hinunter und auf den See und die fernen Berge.
Von beiden Plätzen aus gab es jedoch nicht mehr viel zu beobachten, nur noch selten bog ein Fußgänger oder ein Fahrradfahrer oder ein Auto in die Einfahrt ein. Der Verkehr auf der Straße vor der Einfahrt hingegen hatte im Laufe der Jahre auf schier unvorstellbare Weise zugenommen, der Strom der Autos riss jetzt kaum noch ab. Sie hatte das stete Anwachsen des Verkehrs über die Jahre hinweg beobachtet, auch die Autos selbst waren immer größer geworden, man konnte daran ablesen, wie sehr der Wohlstand zugenommen hatte. München sei wieder so schön wie früher, hatte Franz oft versichert und sie zu einem Besuch überreden wollen. Sie hatte immer abgelehnt.
»Du bist die Einzige, auf die in der Familie Verlass ist, du bist immer zu Hause«, hatte Liane bei ihrem letzten Besuch zu ihr gesagt, »für mich bist du der berühmte Fels in der Brandung.«
Lianes Bemerkung hatte sie daran erinnert, wie sie tatsächlich einmal, es lag Jahrzehnte zurück, ein Fels in der Brandung sein wollte, und ihr war zu ihrer eigenen Überraschung das Wasser in die Augen gestiegen.
Sie werde sie öfter besuchen, mit ihr Beweglichkeitsübungen machen und kleine Spaziergänge unternehmen, hatte Liane bei ihrem letzten Besuch versprochen, sie lebte nun bereits seit etlichen Jahren in einem buddhistischen Nonnenkloster am Chiemsee.
Alexandra hatte damals im Fernsehen einen Bericht über dieses Kloster gesehen, Liane davon erzählt und ihr empfohlen, dort vielleicht eine Zeit lang unterzutauchen, bis Gras über alles gewachsen wäre, über dieses Räuber-und-Gendarm-Spiel der vergangenen Jahre, wie Alexandra Lianes geheimnisvolle politische Verwicklungen gern nannte, in die niemand aus der Familie jemals wirklich Einblick gewann, auch Alexandra nicht. Turbulenzen hatten sie allerdings schon ausgelöst, weil Lianes Name immer mal wieder auf irgendwelchen Sympathisantenlisten der radikalen Szene aufgetaucht und sie selber dann für längere Zeit untergetaucht war.
Im Anschluss an den Fernsehbericht über das buddhistische Nonnenkloster am Chiemsee hatte Alexandra in ihrer Bibliothek nach ihnen gesucht und sie auch gefunden, jene Bücher über Tibet und den tibetanischen Buddhismus, die sie sich als junge Frau, als sie dem Kreis der Freunde Tibets nahestand, gekauft hatte. Darunter auch das Tibetanische Totenbuch. Sie hatte nie zuvor darin gelesen und nun begonnen, es zu studieren, und festgestellt, es war für sie jetzt die richtige Lektüre, um sich auf das
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