Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
kehrte di Angelo zurück. »Wir haben noch einmal Glück gehabt. Das waren die letzten beiden. Die neuen Flaschen wurden erst vor zehn Minuten in den Kühlschrank gelegt. Darf ich Sie etwas Persönliches fragen, Gianna?«
Der Anwalt wollte wissen, wie es ihr im Gletscher ergangen sei, ob der Mann sie bedrängt habe und wie es ihr jetzt ginge. Außer mit ihrem Therapeuten hatte Gianna bisher noch mit niemandem im Detail darüber gesprochen. Am liebsten vermied sie das Thema, das ihr bisheriges Leben auf den Kopf gestellt hatte. Aber di Angelo hatte auf Gianna eine Wirkung wie ein Katalysator. Auf einmal sprudelte es aus ihr heraus, und sie erzählte alles. Über die Zeit im Eis, den Entführer, wie sich ihre Angst vor ihm in Vertrauen gewandelt hatte und dass sie nicht mehr dieselbe sei wie zuvor und sie keinerlei Zugang mehr zu ihrem Freund habe.
Mit besorgter Miene hörte er ihr zu, nahm dann ihre Hand und drückte sie sanft, ohne jedoch näher zu kommen. »Gianna, was Sie durchgemacht haben, entzieht sich jeglichem menschlichen Vorstellungsvermögen. Grauenvoll. Doch eines müssen Sie mir glauben: Dieser Mensch, der Sie in menschenverachtender Weise für seine abartigen Pläne benutzt hat, hat Ihr Vertrauen nicht verdient. Ihr Freund hat hingegen alles getan, um Sie zu retten. Ich bete für Sie, dass Sie irgendwann zur Besinnung kommen.«
Gianna war irritiert. Einerseits hätte sie erwartet, dass sie sofort explodieren würde, wenn sie jemand so direkt auf die Folgen ihrer Entführung ansprach, doch di Angelos Interesse empfand sie als ehrliche Anteilnahme. Andererseits hatte sie den Eindruck, dass der Anwalt sie anziehend fand, doch dazu wollte es nicht passen, dass er jetzt Partei für Vincenzo ergriff.
Vincenzo! Sie hatte fast ein schlechtes Gewissen. So als würde sie ihn betrügen. Nicht weil sie Small Talk mit einem Berufskollegen betrieb, sondern weil sie diesen Mann auf eine seltsame Art anziehend fand. Er war das krasse Gegenteil zu Vincenzo. Beide waren unbestreitbar auffällige Männer, jedoch auf höchst unterschiedliche Weise. Der eine war maskulin, durch Arbeit, Lebenskrisen, Erfahrung, fremde Kulturen gezeichnet und sechzehn Jahre älter als sie. Der andere war ebenfalls männlich, eher attraktiv im Sinne von gut aussehend, zwar geprägt durch ein paar dramatische Fälle, aber ansonsten wohlbehütet aufgewachsen. Die Urlaube, die sie gemeinsam in Südfrankreich verbracht hatten, waren seine spektakulärsten Reisen gewesen. Ansonsten war er bisher noch nie aus Südtirol herausgekommen und wollte es auch gar nicht. Bodenständig, weltoffen. Durch das Leben gezeichnet, durch ein heimeliges Nest unverbraucht. Selbstbewusst und souverän, angreifbar und emotional. Gianna fielen auf Anhieb ein Dutzend Begriffspaare ein, mit denen sie die Gegensätzlichkeit der Männer hätte beschreiben können. Sie wusste genau, dass ihr di Angelo vor ihrer Entführung nur als sympathischer, durchaus interessanter Kollege erschienen wäre, mit dem ihr Vater eine strategische Allianz plante. Vincenzo war ihr Traummann gewesen, das hatte festgestanden. Doch jetzt waren es gerade diese Gegensätze, die sie anzogen und noch weiter als bisher schon von Vincenzo entfernten. Sie konnte den Zustand, die Situation problemlos analysieren, aber es war Gianna unmöglich, sich gegen die aufkommenden Gefühle zu wehren. Sie musste Lorenzo di Angelo einfach näher kennenlernen.
9
Pflerschtal, Hotel Christine, Mittwoch, 4. Januar
Christine Alber schlenderte durch die Flure ihres Hotels. Die meisten Gäste hatten am Wochenende ausgecheckt, nur noch wenige Zimmer waren belegt. Die Nebensaison hatte begonnen. Bedauerlicherweise war sie seit einigen Jahren selbst in der Hochsaison kaum noch ausgebucht. Es gab inzwischen einfach zu viele Hotels im Tal, und die meisten von ihnen waren moderner als ihres und besser ausgestattet. Ihr fehlten leider die Mittel für die dringend notwendigen Modernisierungsmaßnahmen, da sie von den arroganten, selbstherrlichen Banken kein frisches Geld mehr bekommen hatte. Das Hotel war mit Hypotheken überbelastet, doch dank Sara würde das bald ein Ende haben. Ihr standen goldene Zeiten bevor. Sara. Wie lange würden sie das für sich behalten können? Gut, dass dieses Mannweib immer so viel unterwegs war. Sara hatte kaum soziale Kontakte, war ein Eigenbrötler, wie er im Buche steht. Allzu schnell würde niemand nach ihr fragen. Immerhin war die Hauptarbeit verrichtet, allzu viel konnte nicht mehr
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