Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
massiver Holztisch, an zwei Seiten von einer Eckbank aus Holz gesäumt, jeweils ein Holzstuhl an den anderen beiden. Geradeaus die kleine Küche in einer Art Erker. Links hinter dem Verschlag die Vorratskammer, direkt daneben das Bad. Bad war vielleicht zu viel gesagt, eher ein weiterer Verschlag, in dem aus einer Art Brause hin und wieder etwas Wasser tröpfelte. Hinter dem Holztisch führte eine schmale Holztreppe nach oben, wahrscheinlich zur Schlafkammer.
Vincenzo fühlte sich merkwürdig fremd. Auf dem Holztisch entdeckte er einen nicht adressierten Briefumschlag, aber das ging ihn nichts an. Am Fuß der kleinen Treppe rief er Thalers Namen. Als er wieder keine Antwort erhielt, stieg er von einer bösen Vorahnung getrieben in das kleine Obergeschoss. Türen gab es hier keine. Ein Blick nach rechts. Nichts weiter als ein bisschen Holz und ein paar Bücher. Er wandte sich nach links. Die Schlafkammer. Im Bett sah er jemanden liegen, dick eingepackt in Decken und Kissen.
Hatte der alte Kauz in seiner Einsamkeit vielleicht einen über den Durst getrunken und schlief nun seinen Rausch aus? Kein Wunder, dass er nicht auf Vincenzos Rufe reagiert hatte. Willkommen im Club!
Der Commissario trat zu Thaler und legte ihm die Hand an die Schulter. »Herr Thaler?«
Keine Reaktion. Der Mann musste noch mehr über die Stränge geschlagen haben als Vincenzo am letzten Abend. Er schüttelte den Mann leicht an seinen Schultern. »Alexander Thaler? Aufwachen! Ich habe nur ein paar Fragen, dann können Sie gleich wieder weiterschlafen.«
Sekunden später setzte das Begreifen ein, und sie war wieder da, die Erinnerung an Wachtlers Zweifel hinsichtlich der Motive des Bergführers, an der Expedition teilzunehmen. Und an seine eigene Vorahnung, die ihm letztlich genau das vorausgesagt hatte. Es ging nur noch darum, was genau geschehen war.
Vincenzo holte sein Handy aus der Jackentasche. Wenigstens hatte er Empfang. Er rief Reiterer zu Hause an, ließ aber ein Wortgefecht mit dem ernstlich verärgerten Leiter der Spurensicherung nicht zu. Stattdessen wies er ihn an, die Bergrettung zu informieren, damit sie ihn und sein Team so schnell wie möglich ins Ahrntal brachte.
Vincenzo blickte traurig auf den alten Mann hinunter. Seine rechte Hand schien mit seinem Mund verschmolzen zu sein. Vorsichtig zog er die Hand mit Daumen und Zeigefinger ein wenig zurück. Keinesfalls durfte er mögliche Spuren verwischen. Thaler hatte einen Ring an seinem kleinen Finger, den er mit den Lippen umschlossen gehalten hatte. Jetzt ahnte er auch, worum es sich bei dem Briefumschlag unten auf dem Tisch handelte. Betroffen stieg Vincenzo die Stufen wieder hinab, fasste den Umschlag vorsichtig an den Enden und zog den Brief ebenso behutsam heraus. Handgeschrieben. Mit einer gestochen scharfen, geschwungenen Handschrift, die nur noch wenige Menschen beherrschten. Vincenzo legte den Brief auf den Tisch und begann zu lesen.
An meine Freunde!
Vor genau 31 Jahren, 6 Monaten und 12 Tagen habe ich beschlossen, diese Hütte zu errichten, die seitdem meine Heimat war. Vorher hatte ich eine andere, schönere Heimat, habe aber nie mit jemandem darüber gesprochen. Doch jetzt, da ich mein Ziel erreicht habe, zu dem mir niemand folgen kann, möchte ich, dass zumindest die wenigen Freunde, die mir in all den Jahren das Gefühl gegeben haben, nicht ganz allein zu sein, erfahren, warum ich mich hierhin zurückgezogen habe. Sie haben ein Recht darauf, es zu wissen. Wer immer diesen Brief findet, möge ihn bitte an Hans Valentin in Sand in Taufers weiterleiten. Er weiß, wer die Adressaten meiner Geschichte sind.
In meinem ganzen Leben habe ich nur eine Frau geliebt: meine Christel. Christel Abendstein. Im Tal gibt es inzwischen niemanden mehr, der sie gekannt hat, denn sie ist vor 31 Jahren, 6 Monaten und 12 Tagen von mir gegangen. Die Liebe zur Natur hat uns verbunden, vom ersten bis zum letzten Tag, den wir zusammen waren. An jenem letzten Tag wollten wir den Hochfeiler besteigen. Es war ein Herbsttag wie aus dem Bilderbuch. Wir wollten die Tour über die klassische Route gehen. Drei Tage hatten wir eingeplant, denn für uns war die Zeit in der Natur stets wichtiger als das Ziel. Wir haben ungefähr dort biwakiert, wo heute die Hütte steht, die es damals noch nicht gab. Mittags hatten wir den Gipfel erreicht. Die Sicht war schlechter, als ich es erwartet hatte. Vom Karwendel her zog eine dunkle Wolkenfront heran. Ich hatte seit meiner Kindheit das Wetter noch
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