Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
Gletscher hat erst vor wenigen Jahren begonnen, sich stärker zurückzuziehen. Ich gehe davon aus, dass bis dahin der schmale Spalt weitgehend von Schnee oder Eis verdeckt war. Als ich im Juli vergangenen Jahres mit meinen Freunden auf dem Ferner war, lag die schmale Schlucht jedoch frei. Ich vermute, dass Christel damals im Schneesturm auf das dünne Eis und den Schnee getreten ist, der den Spalt zugeweht hatte. Dabei ist sie eingebrochen. Wenigstens das habe ich nach all der Zeit verstehen können.
Nur um die Schlucht noch einmal zu sehen, bin ich mit Markus und den anderen mitgegangen. An dem Stollen habe ich die Gruppe Markus überlassen. Ich war heilfroh, diesen oberflächlichen, eitlen Haufen los zu sein. Außer Sara und wahrscheinlich auch Markus hätte ich jedem von denen zugetraut, über Leichen zu gehen, um seine unermessliche Gier zu stillen.
Anschließend bin ich in die Schlucht hinabgeklettert. Mit jedem Meter spürte ich Christels Nähe stärker und fand sie schließlich noch vor Einbruch der Dunkelheit. Ich war wie euphorisiert. Endlich wusste ich, wo ich damals meine Christel, meine große Liebe und Seelenverwandte, verloren hatte. Mehr als 31 Jahre hatte sie allein in ihrem steinigen Grab gelegen. Übrig waren nur noch Knochen, aber an einem dieser Knochen fand ich unseren Ehering. Die ganze Nacht habe ich bei ihr verbracht und ihr versprochen, dass ich bald für immer zu ihr kommen würde und uns fortan nie wieder etwas oder jemand trennen könnte.
Der Zeitpunkt ist jetzt gekommen. Ich werde zu Christel gehen. Ich sage der irdischen Welt Adieu. Ich war seit Jahrzehnten nicht mehr so glücklich.
Lieber Hans, sag bitte den anderen Bescheid und sorge dafür, dass ich in Prettau beerdigt werde. Unsere Ringe und unser Bild sollen mit in meinen Sarg gelegt werden. Bitte kümmer dich auch darum, dass es für Christel und mich einen einfachen Grabstein gibt. Darauf soll stehen: »Christel und Alexander – auf ewig vereint«. Hier in der Hütte ist etwas Geld dafür. Du findest es, wenn du die Holzbank aufklappst. Der Rest ist für die Bergrettung. Und ich habe noch eine Bitte: Damals habe ich natürlich auch Christels Familie über ihren Tod unterrichtet. Sie haben mir die Schuld für den Unfall gegeben und den Kontakt zu mir abgebrochen. Auch Christels Schwester Marlies, die fünf Jahre jünger war. Sie lebte damals in Kitzbühel. Vielleicht ist es ja möglich, Marlies ausfindig zu machen, sofern sie noch lebt. Man möge ihr mitteilen, dass ich ihre Schwester gefunden habe.
Und noch eine letzte Bitte zum Schluss. Lieber Hans, versuche zu verhindern, dass ich obduziert werde. Ich habe einen Tablettencocktail genommen. Das sollte reichen.
Alexander Thaler
* * *
Innichen
Nachdem Reiterer eingetroffen war, verabschiedete sich Vincenzo schnell. Er hatte keine Lust auf Wortgefechte. Statt sich mit dem Hubschrauber zurück ins Tal fliegen zu lassen, ging er lieber zu Fuß. Er wollte mit sich und seinen Gedanken allein sein.
Als er sich schließlich überwand und Hans Valentin anrief, reagierte der mit Bestürzung. Er hatte Thaler gut gekannt. Dachte er zumindest, denn Anzeichen für einen möglichen Suizid hatte er bei ihm nie bemerkt. Sein freiwillig gewähltes Eremitendasein hatte Hans stets als Ausdruck seiner zutiefst demütigen Persönlichkeit gedeutet. Von seinem erlittenen Schicksalsschlag hatte er nichts gewusst, nicht einmal, dass Thaler jemals verheiratet gewesen war.
Auf der Fahrt nach Innichen dachte Vincenzo über den einen Satz in Thalers Abschiedsbrief nach, der auch für seinen Fall von Bedeutung sein könnte. »Außer Sara und wahrscheinlich Markus hätte ich jedem zugetraut, über Leichen zu gehen, um seine unermessliche Gier zu stillen.« Damit hatte Thaler unbewusst Vincenzos Einschätzungen der Charaktere bestätigt. Zudem war der Satz der Beweis, dass Sara Gasser an der Exkursion in die Berge teilgenommen hatte. Was Wachtler nur vermutet hatte, hatte Thaler gewusst, weil er selbst dabei gewesen war. Alber und Ferrari hatten gelogen. Vincenzo stellte sich darauf ein, am Dienstag, wenn er mit Mauracher die Route der Goldsucher bis zum Stollen nachging, eine weitere, schreckliche Entdeckung zu machen. Gier gehörte nicht umsonst zu den ältesten Mordmotiven der Menschheit.
Michael Wachtler reagierte schockiert auf die Todesnachricht. Er kannte Thaler seit mehr als zehn Jahren, war häufig mit ihm in die Berge gegangen. Wie Hans hatte er trotzdem nicht gewusst, was für ein
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