Gotland: Kriminalroman (German Edition)
Als hätte sie ihn genervt oder irgendwie angegriffen.
Hatte sie das? Hatte sie Dinge gesagt, an die sie sich nicht erinnerte, Worte, die genauso aus ihrem Gedächtnis gefegt waren wie die Schritte von der Kneipe über die Straße bis zum Auto?
Sie klappte die Sonnenblende mit dem Spiegel herunter, beugte sich nach vorn und reckte den Hals. Ihr Gesicht war voller roter Flecken, die Wangen von der verlaufenen Schminke gestreift. Sie musste geweint haben.
»Was machst du?« Ricky strich über das Lenkrad.
Sie gab keine Antwort, hörte nur Rickys Atemzüge.
»Alles okay?«
Sie kicherte auf eine Weise, die sogar in ihren eigenen Ohren merkwürdig klang.
»Natürlich nicht.«
Ihre Stimme versagte, und ihr Hals schnürte sich zu einem brennenden kleinen Knoten zusammen. Sie wusste nicht genau, ob die Trauer oder der Schmerz sie wieder zum Weinen brachten.
»Können wir jetzt endlich losfahren«, kreischte sie und trampelte auf den Boden.
»Ja, ja, ja, wir fahren.« Diesmal hörte er sich an, als hätte er Angst vor ihr, und das brachte sie noch mehr zum Weinen.
Sie wollte, dass er sie tröstete und ihr großer Bruder war. Seine Stimme sollte nicht beben, sondern sagen, dass alles wieder gut werden würde.
Stattdessen fuhr er langsam rückwärts aus der Parklücke. Sie waren beide kleine Geschwister.
»Das ist doch total krank«, sagte sie, als sie bei der Bank abbogen.
»Ich weiß.«
»Normale Menschen werden doch nicht ermordet! Oder was? So was passiert einfach nicht.«
Die Sonne blendete, aber sie konnte sich nicht aufraffen, die Hand noch einmal nach der Sonnenblende auszustrecken. Sie blinzelte. Widerwillig war sie gekommen, um ihren Vater zu sehen. Vor allem, weil sie ihre Mutter nicht enttäuschen wollte. Sie hatte ein Pflichtessen und hoffentlich ein paar nette Stunden mit Ricky erwartet. Zwei vergeudete Tage, aber nichts, womit sie nicht hätte leben können. Und plötzlich war sie in der Hölle.
17
Als Eva Karlén das Fenster über dem Beet in Augenschein nahm, entdeckte sie sofort die beiden Haarsträhnen, die zwischen der Halterung des Außenthermometers und dem Fensterrahmen klemmten. Offenbar hatte jemand sie verloren, der durch das Fenster ins Haus geschaut hatte.
Sie entfernte die langen schwarzen Haare mit einer Pinzette und steckte sie vorsichtig in eine Plastiktüte. Während sie die Tüte beschriftete, hörte sie jemanden kommen.
»Wie sieht es mit den Fußabdrücken aus?«
Fredrik Broman. Konnte er sich nicht von ihr fernhalten? Sie selbst hielt so viel Abstand wie möglich. Merkte er das nicht?
Es geschah etwas mit ihr, wenn er ihr so nah war. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Etwas kam ins Wanken. Nicht, dass sie noch verliebt in ihn gewesen wäre, kein bisschen. Sie wusste nicht einmal, ob sie es je gewesen war. Es war eher wie ein herrlicher Rausch gewesen, und genau den hatte sie damals gebraucht. Aber nun war es nur noch eine Erinnerung. Dennoch stieg ihr Puls, und im schlimmsten Fall gingen ihr Bilder durch den Kopf: von nackten Körpern und zärtlichen Worten. Vereinzelte Höhepunkte, herrliche, göttliche Momente, die man aber besser vergaß.
Vielleicht wollte sie sich wieder berauschen? Nur für einen Tag.
»Die Fußabdrücke hier stimmen nicht mit denen im Beet dort drüben überein.« Sie zeigte auf die niedergetrampelten roten Dahlien. »Hier sind es Zweiundvierziger und dort Siebenundvierziger.«
»Arvid Traneus ist quer durch das Beet vorne gestapft.«
»Vermutlich«, antwortete Eva.
»Und hier hat jemand anderes gestanden und spioniert?«
»Ja, und er hat zwei lange schwarze Haarsträhnen verloren. In Anbetracht der Schuhgröße dürfen wir wohl annehmen, dass es ein Er war. Eine große Frau ist jedoch nicht ausgeschlossen.«
Fredrik nickte stumm. Er dachte nach.
So, nun hast du deine technischen Details. Jetzt geh!, dachte Eva Karlén.
Als Elin aus dem Auto stieg, bekam sie die Tüte mit der Weinbox nicht richtig zu fassen. Sie kullerte aus dem Auto und landete im Gras. Elin beugte sich hinunter, stellte sich aber so ungeschickt an, dass ihr die Tüte wieder aus der Hand fiel, und ohne zu begreifen, warum, begann sie zornig auf dem lächerlichen kleinen Weinkarton herumzutrampeln, den sie von Stockholm hierhergeschleppt hatte.
»Mist.« Keuchend hackte sie mehrmals mit dem Absatz in den Tetrapack, ohne dass etwas passierte. »So ’ne Scheiße«, winselte sie, zerrte den Karton aus der Tüte, drückte den Knopf am Zapfhahn hinein und drehte ihn
Weitere Kostenlose Bücher