Gott-Poker (German Edition)
nach dem Bett. Ich ertappte mich bei dem Wunsch, er möge aufwachen.
›Höchste Zeit, hier rauszukommen‹, dachte ich und schlich mich
nach draußen. Chiara wartete an der Treppe, die von der Terrasse zum Rosengarten hinunter führte. Gemeinsam sammelten wir die Rosenköpfe ein, und mit zwei großen Körben beladen gingen wir hinauf zur Ruine. Wir müssen ein denkwürdiges Bild abgegeben haben, Chiara, die sich weigerte, mir ihren Korb zu geben und ihn an seinem Basthenkel zwischen den Zähnen trug, während sie auf allen vieren neben mir herlief, und ich, in meinem blauen Matrosenkleid, mit zerzausten Haaren und ohne Schuhe, die ich im Schlafzimmer des Doktors vergessen hatte. Die Steine auf dem Boden schnitten mir in die Fußsohlen, und ich versuchte, neben dem Weg in der Wiese zu laufen, doch das vertrocknete Gras stach beinahe schlimmer als die Steine, und mehrmals musste Chiara in ihrem Laufschritt innehalten, bis ich sie eingeholt hatte.
Wir erreichten die Mauer, die auch auf dem Bild in meinem Zimmer zu sehen war. Sie war so hoch, dass ich nicht darüber sehen konnte. Auf der and eren Seite musste der Friedhof sein. Chiara wies mit dem Kopf nach links, und wir gingen ein Stück an der Mauer entlang, bis sich ein kleiner, schmaler Durchbruch auftat. Wir krochen hindurch. Chiara keuchte vor Anstrengung, doch sie ließ sich nicht helfen. Als ich den Kopf durch das Loch steckte, war sie bereits weitergelaufen, bis zum Eingang einer Gruft, die mit einem gusseisernen Gitter verschlossen war. Sie hatte ihren Korb losgelassen und wartete, doch nicht auf mich, wie mir schien. Sie starrte am Eingang der Gruft vorbei in Richtung Meer, auf etwas, das ich nicht sehen konnte, und winkte. Ihr Gesicht leuchtete. Sie schien mich völlig vergessen zu haben. Ich blieb ein Stück entfernt stehen. Hinter dem Grabgemäuer kam ein Mann zum Vorschein. Er hatte kurzes schwarzes Haar und trug ein schwarzes T-Shirt mit einem kleinen Emblem auf der Brust, sowie eine helle Leinenhose. Der Mann erinnerte mich an jemanden, so sehr, dass ich meinte, ihn zu kennen, doch ich kam nicht darauf, woher. Ich unterdrückte den Impuls, auf ihn zuzulaufen und ihn zu begrüßen. Stattdessen ging ich in die Knie und versteckte mich hinter einem Grabstein. Der Mann beugte sich zu Chiara herunter. Sie schlang ihre Ärmchen um seinen Hals, und er hob sie auf. Sie drehten sich, bis sie umfielen. Chiaras helles Lachen klang zu mir herüber. Ich sah, wie der Mann aufstand, sich den Staub von der Hose klopfte und den Korb mit den Rosenblüten aufnahm. Er öffnete das Gitter, das in die Gruft führte, und hielt es für Chiara auf. Sie lief an ihm vorbei, und ich starrte ihn an. In meinen Augenwinkeln huschte ein in der Sonne silbern aufblitzender Salamander über einen der Grabsteine. Plötzlich erkannte ich das Emblem auf dem Hemd des Mannes. ›Nicolas‹, durchfuhr es mich.
Als das Gitter hinter ihnen ins Schloss gefallen war, ging ich langsam bis zum Eingang der Gruft und stellte meinen Korb mit den Rosen davor ab. Dann wandte ich mich um und lief zu dem Maue rdurchbruch. Ich bückte mich und stieß mir den Kopf. Ich rannte zurück zur Stadt, ohne auf die Steine zu achten, ich rannte, bis die Wunde an meinem Kopf wieder zu pochen begann, doch ich hielt nicht inne sondern rannte weiter, ich fiel über Grasbüschel und schnitt mich schließlich an den scharfen Kanten der Muscheln, als ich den Strand erreicht hatte und im Sand weiterlief, am Meer entlang, bis zu der Bar an der weißen Treppe, wo wir damals gesessen hatten, Klara und ich, in unserem ersten gemeinsamen Urlaub, »wir wollen in die Sonne«, hatten wir gesagt, als wir am Flughafen standen, und die Frau am Schalter hatte uns einfach zwei Tickets gegeben und uns in die nächste Maschine verfrachtet, wir hatten nicht gewusst, wo wir gelandet waren, aber hier hatten wir Nicolas getroffen, Nicolas, den Barkeeper, der andauernd whole lotta love gespielt hatte, Nicolas. Wie oft hatte ich ihn verflucht, als wir wieder zurück waren, Klara war zu nichts mehr zu gebrauchen gewesen, genau genommen war sie bis heute zu nichts zu gebrauchen, sie starrte irgendwo in der Gegend herum und hörte immerzu dasselbe Lied an, man konnte schon dankbar sein, wenn sie mitunter die Titel variierte, und vor allen Dingen konnte man dankbar sein, dass whole lotta love für sie ein absolutes Tabu war, das niemand jemals auch nur an spielen durfte. Wie ein Geier passte sie auf das grüne Papierherz auf, dass er ihr
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