Gottes Tochter
plötzlich aufgehört. Das fand er oberclever. Sein Schwager ist Makler, auch ein supercleverer Typ, der hat ihm von einem Objekt erzählt. In den Osten investieren, das war die Idee des Jahrhunderts. Mein Vater ließ sich überreden. Superrendite, sagte sein Schwager, Supereinnahmen, ein Objekt direkt am Meer, Ferienwohnungen und so. Schauen Sie sich den Kasten an, der da jetzt steht. Das Geld kriegte eine ultrarechte Vereinigung. Alles ganz geheim natürlich. Das ist dann aufgeflogen, und mein Vater ist sein Geld los. Er hat auch noch Ersparnisse reingesteckt. Sein Schwager hat ihn ausgenommen, und er hats nicht gemerkt, der clevere Herr. Pech ist das. Das Appartementhotel ›Meerland‹ war auf Sand gebaut. Sie haben das Ding hochgezogen, und dann hat sich rausgestellt, dass mit der Baugenehmigung was nicht stimmt. Das hat natürlich niemand zugegeben. Als mein Vater dahinter gekommen ist, war es zu spät. Deswegen ist er im Dezember hergefahren, und meine Mutter musste mit und ich auch. Zufrieden? Was kümmert mich das verschwundene Geld meines Vaters? Sind Sie eigentlich auch für verschwundenes Geld zuständig oder nur für verschwundene Menschen?«
»Nur für verschwundene Menschen«, sagte Süden. Julika hatte ihr Glas ausgetrunken.
»Wo steht das Haus?«
Julika zögerte einen Moment.
»Das ist eine Ruine auf einem Feld«, sagte sie. »Das kommt davon, wenn man zu den falschen Leute Vertrauen hat.«
»Möchten Sie noch einen Wein?«, fragte Süden.
»Ja.« Sie sah ihm in die Augen. »Im Fernsehen haben Sie kaputter ausgesehen.«
»Und auf dieser Reise haben Sie Rico Keel getroffen.« Sie lächelte eine Sekunde lang. Süden gab der Bedienung das leere Weinglas.
»Sie haben sich schon im Dezember versteckt. Ihr Vater hat Sie von der Polizei suchen lassen.«
»Hat er mich gefunden?«
»Was ist passiert, dass Sie gerade jetzt wieder abgehauen sind?
Ein Jahr vor dem Abitur.«
»Ich brauch kein Abitur. Ich leb jetzt!« Ihre Stimme hallte durch den Kellerraum, und das Paar, das vorne bei der Treppe saß, schaute her.
»Und vorher haben Sie nicht gelebt«, sagte Süden.
»Nein!«, sagte sie und verzog den Mund. »Vorher hab ich nicht gelebt. Vorher hab ich vegetiert.«
»Erzählen Sie mir Ihre Geschichte«, sagte Süden.
21
S ie trank und erzählte über das Trinken hinaus und trank ins Erzählen hinein. »Ich bin in einem Gehege groß geworden und immer hab ich den Zaun gesehen, so nah, dass ich verstand, es gibt kein Entrinnen. Und ich bin nicht entronnen und ich wollt nicht entrinnen. Wieso denn nicht? Wieso bin ich nicht hingelaufen und drübergeklettert? Wieso hab ich das mit mir machen lassen?«
Sie nahm die Hand vom Glas nicht weg.
»Ein einzelner Mann war der Wächter, und ich hab mich vor ihm gefürchtet und weiß nicht, wieso. Jetzt bin ich weg, weg von dem Mann, der mir hinterhergefahren ist, wenn ich meine Freunde traf und nichts Verbotenes getan hab. Ich schlief mit keinem Jungen, Rico ist der Erste, und ich glaub, er hat nicht einmal gemerkt, dass es das erste Mal für mich war, und das ist ein Glück. Ja. Ich hätt oft mit einem Jungen ins Bett gehen können, und niemand hätt was gemerkt, nicht mal mein Wächter.«
Sie trank aus und schaute sich um. Sie hob das leere Glas, und ihre Hand zitterte, und sie musste es hinstellen.
»Ich hab mich nicht mehr getraut, auf die Straße zu gehen, ich dachte, da lauert er schon. Warum hat er das gemacht, fragen Sie. Fragen Sie mich noch einmal. Warum hat er das gemacht? Ich hab ihn nicht gefragt. Ich hab mich nicht getraut. So hab ich aus Feigheit meinen Freund verloren. Ich hatte nämlich einen Freund.«
Sie sah Süden an, als überlege sie, ob er das wissen dürfe. »Er war vier Jahre älter als ich und nur einen Meter fünfzig groß und ganz dünn. Er ist Jockey, er war schon in Iffezheim, da war er stolz drauf und ich auch, weil er mit neunzehn auf so einer berühmten Rennbahn starten durfte, außer Konkurrenz, er war ja mit der Ausbildung noch nicht fertig. Er musste erst Pferdewirt sein, bevor er richtige Rennen reiten durfte. Es heißt, er ist eins der größten Talente, die der Galopp Club Deutschland je gehabt hat. Mein Vater hat ihn angerufen und beschimpft, und wir haben uns trotzdem getroffen. Heimlich, alles heimlich. Linus war sein Name. Ich hab Pferde gehasst, bevor ich ihm begegnet bin.«
Sie trank und verzog das Gesicht. »Linus hat mir erklärt, wie er mit den Pferden spricht, wie er mit ihnen umgeht, respektvoll und
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