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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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stimmte, und ich hab Sandra festgehalten, aber ich konnte meine Hände nicht fühlen, sie sahen nicht aus wie meine. Ich kam nicht dahinter, wessen Hände das waren. Ich hatte Panik. Cathal war mir gegenüber, und sein Atem klang unheimlich laut, aber ich erkannte ihn nicht, ich konnte mich nicht erinnern, wer er war und was er da machte. Sandra hat sich gewehrt, und dann waren da diese Geräusche und – mein Gott. Ich schwöre, eine Sekunde lang dachte ich, wir wären Jäger, und das da war ein, ein Tier, das wir erbeutet hatten, und Shane war dabei, es zu töten ...«
    Mir gefiel der Ton dieser Geschichte immer weniger. »Wenn ich Sie richtig verstehe«, sagte ich kalt, »dann standen Sie unter dem Einfluss von Alkohol und illegalen Drogen, hatten höchst wahrscheinlich einen Hitzschlag und befanden sich vermutlich im Zustand heftiger Erregung. Meinen Sie nicht, die Faktoren könnten etwas mit Ihren Wahrnehmungen zu tun haben?«
    Jonathans Augen richteten sich einen Moment auf mich, dann zuckte er kurz mit den Schultern, kapitulierte. »Ja, klar«, sagte er ruhig. »Wahrscheinlich. Aber nochmal, das soll keine Entschuldigung sein. Ich erzähle es bloß. Sie haben danach gefragt.«
    Es war natürlich eine absurde Geschichte, melodramatisch und irgendwie selbstgerecht und überaus vorhersehbar: Jeder Straftäter, den ich bislang verhört habe, hatte eine weitschweifende Geschichte parat, die schlüssig bewies, dass er eigentlich gar keine Schuld hatte oder zumindest, dass es nicht so schlimm war, wie es aussah, und die meisten waren deutlich besser als die hier. Aber mich wurmte, dass ein kleiner Teil von mir sie glaubte. Ich war ganz und gar nicht überzeugt von Cathals idealistischen Motiven, Jonathan aber: ein Neunzehnjähriger, irgendwo verloren in den Wirren seines Alters, halb verliebt in seine Freunde, mit einer Liebe, »wunderbarer als die Liebe der Frauen«, auf der verzweifelten Suche nach einem mystischen Ritual, das die Zeit zurückdrehen und ihre zerfallende, kleine Welt wieder heil machen würde. Es dürfte nicht schwer für ihn gewesen sein, darin einen Liebesakt zu sehen, auch wenn es für die harte Welt da draußen krank und nicht nachvollziehbar war. Das änderte jedoch nichts an den Fakten: Ich fragte mich, was er für diesen Zweck noch alles gemacht hätte.
    »Und Sie haben keinen Kontakt mehr zu Cathal Mills und Shane Waters?«, fragte ich. Ein bisschen grausam, ich weiß.
    »Nein«, sagte er leise. Er wandte den Blick ab, schaute zum Fenster hinaus und lachte, ein trostloses kurzes Schnauben. »Nach all dem oder was? Cathal und ich schicken uns zu Weihnachten eine Karte. Bei seinen unterschreibt seine Frau für ihn. Von Shane hab ich seit Jahren nichts mehr gehört. Ich hab ihm hin und wieder einen Brief geschrieben, aber er hat nie geantwortet. Irgendwann hab ich’s dann aufgegeben.«
    »Nicht lange nach der Vergewaltigung hat die Entfremdung angefangen.«
    »Es ging allmählich, über Jahre. Aber ja, im Grunde stimmt es, es hat an dem Tag im Wald angefangen. Es war schwierig, danach. Cathal wollte immerzu darüber sprechen, und das hat Shane total nervös gemacht. Ich hatte entsetzliche Schuldgefühle, wollte am liebsten nicht mehr dran denken ... Verrückt, was? Und wir haben gedacht, die Sache würde uns auf ewig zusammenschweißen.« Er schüttelte abrupt den Kopf, wie ein Pferd, das eine Fliege verscheucht. »Aber ich glaube, wir wären bestimmt auch so eigene Wege gegangen. So was passiert. Cathal ist weggezogen, ich habe geheiratet ...«
    »Und Shane?«
    »Ich wette, Sie wissen, dass Shane im Knast ist«, sagte er trocken. »Shane ... Hören Sie, wenn der arme Hund zehn Jahre später geboren wäre, hätte er sich prima gemacht. Ich sage nicht, er hätte eine Erfolgsstory hingelegt, aber er hätte einen anständigen Job und vielleicht eine Familie. Er war ein Opfer der 80er. Eine ganze Generation ist durch die Maschen gefallen. Als der Wirtschaftsboom einsetzte, war für die meisten von uns der Zug längst abgefahren, wir waren zu alt, um nochmal von vorn anzufangen. Cathal und ich hatten bloß Glück. Ich war in allem eine Niete, aber gut in Mathe, eine Eins auf dem Abschlusszeugnis, so hab ich schließlich doch noch eine Stelle in der Bank ergattern können. Und Cathal hatte irgendwann eine reiche Freundin, die einen Computer hatte und ihm beigebracht hat, wie man damit umgeht, nur so zum Spaß. Ein paar Jahre später, als alle händeringend Leute mit Computerkenntnissen suchten, war

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