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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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Ansammlung von Möglichkeiten und Hypothesen gewesen (»Okay. Bloß mal angenommen, Mark war’s, und die Krankheit und der alte Fall sind doch irrelevant, und Mel sagt die Wahrheit: Wen hätte er dazu kriegen können, die Leiche wegzuschaffen?«), und so etwas wie Gewissheit war für mich allmählich unvorstellbar geworden wie ein weit zurückliegender Kindheitstraum. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich auf einem dunklen Dachboden zwischen aufgehängten Kleidungsstücken herumgeirrt und plötzlich gegen einen menschlichen Körper gerannt, warm und fest und lebendig.
    Cassie senkte die Vorderbeine ihres Stuhl auf den Boden. »Okay«, sagte sie. »Gehen wir zurück zum Anfang. Die Vergewaltigung von Sandra Scully. Wann genau ist das passiert?«
    Jonathans Kopf schnellte zu mir herum. »Alles in Ordnung«, sagte ich mit gedämpfter Stimme. »Verjährt.« Wir hatten das zwar noch nicht überprüft, aber die Frage war rein akademisch: Wir würden ihn deswegen ohnehin nie belangen können.
    Er blickte mich lange argwöhnisch an. »Im Sommer’84«, sagte er schließlich. »Das genaue Datum weiß ich nicht mehr.«
    »Nach den uns vorliegenden Erkenntnissen geschah die Sache in den ersten zwei Augustwochen«, sagte Cassie und schlug eine Akte auf. »Könnte das ungefähr hinkommen?«
    »Möglich.«
    »Es liegen ebenfalls Erkenntnisse vor, dass es Zeugen gab.«
    Er zuckte die Achseln. »Ist mir neu.«
    »Seltsam, Jonathan«, sagte Cassie, »denn Sie sollen ihnen bis in den Wald nachgerannt sein, und als Sie zurück zur Lichtung kamen, sollen Sie gesagt haben: ›Scheißkids.‹ Demnach müssen Sie gewusst haben, dass sie da waren.«
    »Kann sein. Ich erinnere mich nicht.«
    »Wie war das für Sie, dass die Kinder alles beobachtet hatten?«
    Wieder ein Achselzucken. »Wie gesagt, ich kann mich nicht erinnern.«
    »Cathal sagt ...« Sie blätterte die Seiten um. »Cathal Mills sagt, Sie hätten panische Angst gehabt, die Kinder würden zur Polizei gehen. Er sagt, Zitat, Sie hätten sich vor Angst in die Hose gemacht.«
    Keine Antwort. Er rutschte etwas tiefer auf seinem Stuhl, die Arme verschränkt, undurchlässig wie eine Wand.
    »Was haben Sie gemacht, um sie davon abzuhalten, zur Polizei zu gehen?«
    »Nichts.«
    Cassie lachte. »Ach, kommen Sie, Jonathan. Wir wissen, wer die Zeugen waren.«
    »Da wissen Sie mehr als ich.« Sein Gesicht war eine harte Schutzmaske, die nichts verriet, doch ein rötlicher Hauch überzog seine Wangen. Er wurde langsam wütend.
    »Und nur ein paar Tage nach der Vergewaltigung«, sagte Cassie, »sind zwei der Kinder spurlos verschwunden.« Sie stand auf – gemächlich, streckte sich – und ging dann zu der Fotowand.
    »Peter Savage«, sagte sie und legte einen Finger auf das Schulfoto. »Bitte sehen Sie sich das Bild an, Mr Devlin.« Sie wartete, bis Jonathan den Kopf hob und trotzig auf die Aufnahme blickte. »Peter Savage soll ein geborener Anführer gewesen sein. Er hätte an Ihrer Seite die Kampagne gegen die Schnellstraße leiten können, wenn er noch leben würde. Seine Eltern können nicht wegziehen, wissen Sie das? Joseph Savage hat vor ein paar Jahren einen Traumjob angeboten bekommen, aber dafür hätten sie nach Galway ziehen müssen, und sie haben den Gedanken nicht ertragen, Peter könnte eines Tages zurückkommen und sie wären nicht mehr da.«
    Jonathan wollte etwas sagen, aber sie ließ ihm keine Zeit. »Germaine Rowan« – ihre Hand bewegte sich zum nächsten Foto – »genannt Jamie. Sie wollte später mal Tierärztin werden. Ihre Mutter hat im Zimmer ihrer Tochter nichts verändert. Sie wischt dort jeden Samstag Staub. Als in den Neunzigerjahren die Telefonnummern siebenstellig wurden – erinnern Sie sich? –, ist Alicia Rowan zur Telecom gegangen und hat unter Tränen darum gebeten, ihre alte sechsstellige behalten zu dürfen, für den Fall, dass Jamie irgendwann zu Hause anrufen will.«
    »Wir hatten nichts mit –«, setzte Jonathan an, doch sie fiel ihm wieder ins Wort, mit lauterer Stimme.
    »Und Adam Ryan.« Das Foto von meinen aufgeschürften Knien. »Seine Eltern sind weggezogen, um der Presse zu entkommen und weil sie Angst hatten, ihr Sohn könnte noch in Gefahr sein. Sie haben alle Zelte hinter sich abgebrochen. Aber wo immer Adam jetzt auch ist, er ist für immer gezeichnet. Sie lieben Knocknaree, richtig, Jonathan? Sie fühlen sich in der Nachbarschaft wohl, in der Sie seit Ihrer Kindheit leben, oder? Adam wäre es vielleicht ebenso ergangen, wenn er die

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