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Grabmoosalm (German Edition)

Grabmoosalm (German Edition)

Titel: Grabmoosalm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannsdieter Loy
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hier verloren hatte.
    Dieser Teil war die geschlossene Abteilung des Grandis, in dem diejenigen
untergebracht waren, die als grenzwertig galten oder die Grenze bereits
überschritten hatten. Oder die, die sich auf die Socken machen und abhauen
würden.
    Zu diesem Zweck gab es einen breiten Eingang mit Holzrahmen,
Sicherheitsglas und Sicherheitsschloss. Das Schloss war immer abgesperrt. Ohne
Schlüssel war weder ein Rein- noch Rauskommen.
    Nun wollte Ottakring seine Mutter besuchen. Nicht, weil er das
Bedürfnis dazu hatte. Sondern weil er sich verpflichtet fühlte, es zu tun. So
wie er früher zum Dienst ging, weil es seine Pflicht war.
    Er fand sie im Casino.
    Dr. Mindler stand barfuß hinter ihr, hatte ihr die Hände auf
die Schultern gelegt und war dabei, ihr den zweiten Satz der Sibiria-Symphonie
von Josef Stalin zu erklären.
    »Können Sie die Gretl kurz entbehren?«, fragte der Kriminalrat
a. D. den Herrn in freundlichem Ton.
    Überrascht blickte Mindler auf. Er spitzte die Lippen, als ob er
schmollte. Dann lächelte er breit.
    »Wenn Sie mir nur gestatten, den zweiten Satz zu Ende zu erklären.
Gretl wollte es unbedingt hören. Und wenn wir fertig sind, werde ich sie ins
Konzert führen. In London spielen sie die ›Sibiria‹ meist noch im alten Jahr.«
    Ottakring war nicht sehr bewandert, was klassische Musik anbetraf.
Seine Mutter noch viel weniger.
    »Wer sind Sie eigentlich?«, hakte Mindler nach.
    Ottakring verweigerte die Antwort.
    Den anderen störte das nicht. Er hatte seine Frage schon vergessen.
    Die Gespräche im Raum waren verstummt. Es war still.
    Ephraim Stubenrauch, der Philharmoniker, hatte seine Trompete unter
den Arm geklemmt und war auf Zehenspitzen näher getreten.
    »Das friedliche, wie in klösterlicher Abgeschiedenheit empfangene
Hauptthema klingt in den ersten Violinen auf und entfaltet sich über die Celli
hin zu den Bratschen«, dozierte Dr. Mindler. Er hatte sich einen Stuhl
herbeigezogen und sich vor die Frau gesetzt. Der Trompeter schloss sich ihm an.
»Ein Farbtupfer durch die Hörner, eine Unterstreichung durch die Violinen auf
ihrer klangvollen G-Saite …«
    Gretl Ottakring hing an seinen Lippen.
    Ihr Sohn hatte sie kaum je so konzentriert gesehen. Es freute ihn,
dass es ihr so gut ging.
    Die Wahrheit.
    Konnte es wahr sein, dass der Hund der Mosers versehentlich die Frau
erschossen hatte? Wie konnte ein Hund mit seiner Riesenpratze versehentlich den
Abzug eines auf dem Tisch liegenden Gewehrs betätigen? Doch die Ermittler waren
schon weit, das war Ottakring bekannt, und sie hatten kein Haar in der Suppe
gefunden.
    »›Die Moserin ist eine Mörderin!‹ Hast du doch gesagt, oder?«,
fragte er seine Mutter später auf ihrem Zimmer. Ottakring mochte es nicht,
länger mit den anderen Geisteskranken zusammenzusitzen. Er hatte lange genug
bei der Kripo gedient, und im Grandis reichte ihm seine eigene Mutter.
    Er ahnte schon, dass seine Frage unbeantwortet bleiben würde.
    Doch seine zierliche geblümte Mutter sah zu ihm auf und sagte: »Hab
ich doch gesagt, oder?«
    »Gut. Dann sag mir, wen sie ermordet hat.«
    Er hatte gelernt, dass Wiederholungen bei Alzheimer-Patienten
nützlich sein können. »Warum ist sie eine Mörderin?«
    Listig sah sie ihn von unten an und lächelte.
    »Weil sie einen Wolf ermordet hat«, flüsterte sie. »Hat sie mir selbst
gesagt. Einen Wolf. Mit dem Gewehr. Sie ist eine Mörderin. Hat sie auch selbst
gesagt.«
    Ottakring blies die Backen auf und ließ die Luft langsam wieder ab.
    »Ist gut, Mutter«, sagte er. »Ich werd mir’s merken.«
    »Sie haben wieder nicht ordentlich geputzt«, schimpfte die Ottakring
und schwenkte die Hand durch den Raum. »Spinnweben überall. Sie müssen mehr
putzen.«
    Ottakring sah nirgendwo Spinnweben. Da kam sie wieder hervor, seine
herrische, selbstsüchtige Mutter.
    Früher war sie kaum jemals ohne Make-up aufgetreten. Er hatte sie
niemals dabei ertappt, dass sie weinte. Nicht vor Enttäuschung, nicht vor
Schmerz, nicht einmal vor Wut. Tränen hätten ihr makelloses Make-up verdorben,
ihr Gesicht anschwellen lassen, ihre Mundwinkel nach unten gezogen und Furchen
vertieft, die verraten könnten, wie alt sie war. Ihr Aussehen war ihr beinahe
wichtiger gewesen als alles andere.
    Ottakring erinnerte sich an eine elegante Frau mit goldenen Ohrringen,
einem Armband mit Glücksbringern und perfekt gewellter Frisur. Und jetzt saß
sie da, hilf- und schmucklos, mit abstehenden Haaren und schlampig gekleidet.
Fast könnte

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