Gral-Zyklus 1 - Die Kinder des Gral
angemessene Zeitspanne. Draußen war Palermo in das orangerote Licht der untergehenden Sonne getaucht. Er eilte zurück nach San Giovanni.
Der Kirchenraum war leer; ungewöhnlich zur Stunde der Vesper. Die Tür zur Sakristei stand offen. Der Sakristan hing von der Decke in Verlängerung der Eisenkette, die das Gestell für die Öllämpchen trug. Die Schnur um se i nen Hals war dünn und schnitt in das blau angelaufene Fleisch, nur die heraushängende Zunge war noch dunkler getönt. Unter ihm war ein Hocker umgestürzt, doch es sah kaum nach Selbstmord aus – es roch geradezu nach Hinrichtung.
Der Geruch war es, der dem Benediktiner vor allem aufs G ed ärm schlug. Er schloß die Tür zum Altarraum und hockte sich in eine Ecke.
Er hatte noch nicht ausgeschissen – es war inzwischen dunkel geworden –, da erschien vor dem Gitterwerk des Fensters eine Silhouette und klopfte das vereinbarte S i gnal. Der Benediktiner erhob sich wankend und sah den Mönch, das Gesicht von der herabgezogenen Kapuze fast verhüllt. Für ihn war jetzt nur eines wichtig: nicht allein gelassen zu werden mit dem Toten an der Kette und dem unsichtbaren Henker im Genick.
Er schob zögernd die Pergamentwurst durch die Eise n stäbe, die der Kapuzenmann hastig an sich nahm. »Willst du nicht wissen, wo ich sie verborgen hatte?« versuchte er des Boten Neugier zu erwecken. »Riechst du es nicht?« Verzweifelt klammerte sich der Benediktiner an das Gatter. »Aber ich weiß inzwischen noch mehr, die Wahrheit …! «
Doch die Dunkelheit hatte den anderen verschluckt.
Er wollte ihm hinterherschreien, doch er besann sich e i nes Besseren. Er verbarrikadierte die Tür, um so die Nacht abzuwarten. Er trat wieder ans Fenster und starrte hinaus auf die Kakteen, deren Früchte jetzt im silbrigen Mondlicht leuchteten. Die Zikaden hatten zu schreien aufgehört.
Kein Mensch weit und breit, kein Laut, und doch laue r ten da draußen die Häscher. Er zog sich zurück und wagte nicht, zum Toten aufzuschauen. Er baute die Barrikade wieder ab, wobei er jedes Geräusch vermied. Er mußte den Sprung in die Nacht wagen, und einen anderen Au s gang gab es nicht.
Da klopfte es wieder am Fenster. Der Benediktiner sto l perte ans Gitter und preßte sein Gesicht erwartungsvoll zwischen die Stäbe.
Eine spitze Nase tauchte vor ihm auf, ein schielendes Auge. Zu spät begriff er, daß es nicht der Bote war.
Die Schlange schnellte vor; sie züngelte nicht, sondern schlug ihre Zähne mit blitzschnellem Stich in seine Li p pen. Er riß sich los und fiel taumelnd zurück in den Raum.
Wasserspiele
Otranto, Sommer 1244
»So habt Ihr am eigenen Leibe gespürt«, sprach die Gr ä fin von Otranto, »wie der Nornen Wirken wenig Freud ’ und manche Pein verursacht, wie auch das Wissen um Z u viel zur Last werden kann. Ìçä ἐ í ἂ ãáí!«
»Ihr tragt es mit Anmut und Würde, Gräfin«, tröstete sie in seiner bärbeißigen Art der Deutschritter, »und Ihr habt mich neugierig auf mehr gemacht – noch ist das Schiff nicht zu sehen, das Ihr erwartet …«
Er war zu ihr getreten, und sie schauten beide auf das Meer hinaus. Da Laurence seiner Einladung nicht folgte, sah sich Sigbert von Öxfeld veranlaßt, das Schweigen zu lösen. Er tat es stockend und unbeholfen.
»Als der Kaiser dann endlich Jerusalem besuchte, wurde ich von meinem Emir dem gleichfalls anwesenden Gro ß meister der Deutschen Ritter vorgestellt und in den Orden aufgenommen.« Auf der glatten blauen Fläche, die sich samten unter ihnen ausbreitete, war noch immer nichts zu entdecken. »Meine Verbindung zu Fakhr ed-Din ist nie abgerissen. Als Friedrichs Freund, der Sultan el-Kamil, starb, erhob sein Sohn und Nachfolger Ayub ihn zum Großwesir Ägyptens …«
Wenn beide dachten, ein Gespräch ohne Zeugen geführt zu haben, hatten sie sich getäuscht. Hinter den Terraco t ta-Vasen, die dickbauchig die Brüstung säumten, lauerten die Kinder. Yeza hatte wie immer ihren kleinen Spielg e fährten angeführt. Sie waren vom Garten die schrägen Wasserri n nen hochgeklettert, waren – wie oft hatte es ihnen Laurence verboten – auf allen vieren über das vo r springende Dach gekrochen und hatten sich dann unte r halb der Brüstung hochgehangelt. Yeza stellte Roç auf den abschüssigen Zi e geln an die Wand, ließ ihn die kle i nen Hände falten und benutzte den schwankenden Jungen über Schulte r u nd Kopf als Trittleiter. Dann zog sie sich an der überhänge n den Bougainvillea hoch, bis sie flach in
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