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Grazie

Grazie

Titel: Grazie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chelsea Cain
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»Ist das der Grund,
warum Archie sie ständig besucht hat? Weil er diesen ersten Fall
abschließen wollte?«
    Henry schwieg einen Moment. »Nein.«
    Susan fragte sich, wie viel Archie mit Henry über Gretchen
sprach. Sie hatte seine Reaktion gesehen, als Gretchen Archies Arm bei
einer Vernehmung berührt hatte, die Susan während der Arbeit an ihrem
Porträt beobachten durfte. Henry war binnen einer Sekunde im
Vernehmungsraum gewesen und hatte Gretchen von Archie weggezogen, als
sei sie hoch infektiös. Susan hatte schreckliche Angst vor ihr gehabt,
war aber gleichzeitig von dem lässigen Umgang zwischen Gretchen und
Archie fasziniert gewesen. Die Beziehung der beiden hatte etwas Intimes
an sich, das zumindest beunruhigend war.
    Der Gehsteig war alt, von Baumwurzeln aufgeworfen, und Susan
und Henry gingen vorsichtig und hielten den Blick auf den Boden
gerichtet.
    »Wir hätten uns nie auf den Deal mit der Verteidigung
einlassen dürfen«, sagte Henry, fast wie zu sich selbst. »Wir hätten
sie vom Staat Washington anklagen lassen sollen. Dann wäre sie jetzt
schon tot.«
    »Archie hat einunddreißig weitere Fälle abgeschlossen«, sagte
Susan.
    Henry blieb stehen. Sie waren bei dem Haus angekommen, einem
braunen Schindelungetüm, das aussah, als wäre es in den Vierzigerjahren
gebaut worden. Susan konnte sein Gesicht im Licht der Straßenlampe
sehen. Er sah müde aus und zog die Schultern ein. Seine Lederjacke
glänzte vom Regen. »Sie kannten ihn vorher nicht«, sagte er.
    Es war schwer, sich Archie glücklich vorzustellen.
    »Parker hat viel über den Fall Beauty Killer geschrieben,
oder?«, fragte Susan.
    »Hunderte von Artikeln im Lauf der Jahre«, sagte Henry. »Ach
was, Tausende wahrscheinlich.«
    Parker war alte Schule. Er hätte noch eine Schreibmaschine
benutzt, wenn sie ihn gelassen hätten. Er besaß wahrscheinlich
Aufzeichnungen, ganze Kartons davon. Sie mussten unschätzbar sein für
jemanden, der beispielsweise eines Tages ein Buch über den Fall Beauty
Killer schreiben wollte. Wenn die Molly-Palmer-Geschichte erschienen
war, sollte Susan bei der Zeitung einigen Kredit haben. Vielleicht
konnte sie ein Sabbatjahr nehmen.
    »Erinnern Sie sich zufällig, ob er mal erwähnt hat, wo er
seine Unterlagen aufbewahrt?«, fragte Susan.
    Henry sah sie einen Augenblick lang an, dann zog er die
Augenbrauen hoch und seufzte. »Fast hätte ich es vergessen«, sagte er.
Er zog seinen Ausweis aus der Tasche und klappte ihn auf. Dann richtete
er die Taschenlampe auf Susans Gesicht.
    Sie wandte den Kopf ab und hob die Hand über die Augen. »Was
vergessen?«, fragte sie.
    »Dass Ihnen Artikel wichtiger sind als Menschen«, sagte Henry.
Er schaltete die Lampe aus. »Überlassen Sie mir das Reden«, sagte er
und klopfte an die Tür.
    Sie warteten schweigend, während Susan innerlich kochte. Sie
hatte nicht unsensibel sein wollen. Sie machte sich etwas aus Archie.
Sie hatte nicht die Absicht, irgendwelchen billigen Mist zu schreiben.
Den gab es bereits. Sie wollte ein echtes Buch schreiben. Ein kluges,
bezwingendes, erhellendes Buch. War das so schrecklich?
    »Ich wollte nicht …«, begann sie.
    Henry hob die Hand. »Stopp«, sagte er.
    Ein Verandalicht ging an und spritzte gelbes Licht in die
Dunkelheit. Die Eingangstür ging auf, eine ältere Frau erschien. Sie
trug das Haar lose und war mit einem Wollhemd bekleidet, das mit
indianischen Totems verziert war.
    »Ja?«, sagte sie.
    Henry trat vor und zeigte seinen Dienstausweis. »Guten Tag,
Madam. Ich bin Detective Sobol. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen
stellen.« Er lächelte liebenswürdig. »Wohnen Sie hier?«
    »Jawohl, mein Sohn«, sagte sie, und die hellblauen Augen
funkelten amüsiert. »Seit mittlerweile vierundfünfzig Jahren.«
    »Ist Ihnen in letzter Zeit etwas Besonderes aufgefallen?«,
fragte Henry und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel.
»Irgendwelche Aktivitäten im Wald?«
    Die Falten in ihrem Gesicht wurden tiefer. »Hat das mit dem
Tod des Senators zu tun?«
    »Nein, Madam. Wir haben sterbliche Überreste im Wald gefunden.«
    »Was für Überreste?«, fragte sie.
    Henry räusperte sich. »Menschliche.«
    Die Frau reckte den Hals und spähte in Richtung Wald. Dann sah
sie Susan an. Susan versuchte, ebenfalls liebenswürdig zu lächeln. »Ist
das Ihre Frau?«, wollte die alte Dame von Henry wissen.
    Susan lachte laut auf.
    »Nein, Madam«, sagte Henry. »Sie ist eine Reporterin.«
    Susan hielt ihr Notizbuch hoch und wackelte zur

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