Gregor und der Spiegel der Wahrheit
Stattdessen landete er direkt im Maul einer riesigen Echse.
13. Kapitel
G regor sah nur den Kopf des Tiers, ein geschupptes, blaugrün schillerndes Gesicht fünf Meter über ihm. Das Tier schluckte, und für einen Moment konnte Gregor die sich kräuselnden Halsmuskeln erkennen.
»Mein Ball!«, sagte Boots.
Temp war dem Ball schon nachgelaufen, doch als er das monströse Reptil sah, bremste er ab.
Boots ließ sich nicht so leicht abschrecken. Sie rutschte vom Hals des Kakerlaks, stürmte los und zeigte mit dem Finger auf die Echse. »Du hast meinen Ball geesst!«
»Nein, Boots!«, schrie Gregor. Er rappelte sich auf und stolperte über ein Skelett. »Nein!«
»Du hast meinen Ball geesst!«, rief Boots wieder. Sie schlug mit den Händen auf die Lianen am Rande der Lichtung und schickte ein Beben durch den Dschungel. Die Echse schaute sie an und senkte drohend den Kopf.
Temp breitete die Flügel aus und wollte der Echse ins Gesicht fliegen. Doch die Kakerlaken hatten wenig Übung im Fliegen, und wenige Meter vorm Ziel verhedderte er sich hoffnungslos im Gestrüpp.
Gregor versuchte sich verzweifelt aus einem Brustkorb zu befreien. »Boots! Komm hierher!« Er sah, dass die anderen ihr zu Hilfe eilen wollten, doch wie sollten sie rechtzeitig bei ihr sein?
»Du gibst Temp meinen Ball!«, sagte Boots heulend zu der Echse. »Duuuuuu!«
Die Echse starrte Boots an und riss das Maul weit auf. Ein furchterregendes Zischen kam heraus; gleichzeitig schoss ein regenbogenfarbener Kamm aus ihrem Nacken und ließ ihren Kopf fünfmal so groß erscheinen.
»Oh!«, rief Boots überrascht. Instinktiv hob sie die Arme über den Kopf, als hätte auch sie einen Kamm. »Oh!«
Für einen Augenblick standen sich die turmhohe Echse und das kleine Mädchen fast spiegelbildlich gegenüber. Beide mit offenem Mund, drohendem Kamm, weit aufgerissenen Augen.
Und dann fing jemand an zu lachen. Das Geräusch kam aus Richtung der Echse, scheinbar aus ihrem Maul. Doch es war eindeutig ein menschliches Lachen, daher wusste Gregor, dass es von woanders herkommen musste.
Der Schwanz der blaugrünen Echse schnellte aus dem Dschungel heraus, die Spitze blieb neben Boots auf dem Boden liegen. Im Gestrüpp raschelte es und jemand rutschtevon dem Schwanz herunter. Ein blasser Unterländer mit violetten Augen landete leichtfüßig neben Boots. Er lachte immer noch, als er sich neben sie auf ein Knie beugte.
»Dann bist du also auch ein Zischer?«, sagte er.
»Nein, ich bin Boots«, sagte sie und ließ die Arme sinken. »Wer bist du?«
»Ich bin Hamnet. Und das hier ist meine Freundin Frill«, sagte er. Er zeigte auf die Echse, die den Kamm langsam wieder einklappte.
»L wie Legowan«, sagte sie. Sie meinte Leguan. Das war auch ein Tier aus ihrem Abc-Buch. Unter L gab es einen Löwen und einen Leguan.
»Ja, da hast du wohl recht«, sagte Hamnet. »Was auch immer ein Legowan ist.«
»Die da hat meinen Ball geesst«, sagte Boots beleidigt.
»Das hat sie nicht mit Absicht gemacht. Wir wollen mal sehen, ob wir den Ball zurückbekommen können. Frill, gibst du uns den Ball wieder?«, fragte Hamnet.
Der Hals der Echse krampfte sich zusammen und dann schoss der Ball aus ihrem Maul direkt in Hamnets Hand. Er wischte ihn an seinem Hemd ab, und Gregor bemerkte, dass es nicht gewebt war wie die Kleider, die die Unterländer normalerweise trugen. Hamnets Kleider schienen aus Reptilienhaut gemacht zu sein.
»So gut wie neu, wenn du dich an ein wenig Zischerspucke nicht störst«, sagte Hamnet. Er hielt Boots den Ball hin.
Wie nannte man das noch mal? Wenn man das Gefühlhatte, etwas schon einmal erlebt zu haben? Déjà-vu? Gregor erlebte gerade ein ganz großes Déjà-vu. Er sah plötzlich Luxa vor sich, wie sie auf ein Knie gebeugt war und Boots in der Arena einen Ball hinhielt, dasselbe angedeutete Lächeln im Gesicht … Das war, als sie sich zum allerersten Mal gesehen hatten. Die Ähnlichkeit war so verblüffend, dass Gregor fast ihren Namen gesagt hätte. Wer war Hamnet? Ihr Vater? Nein, ihr Vater war tot. Doch sie mussten miteinander verwandt sein. Und was machte er hier mitten im Dschungel? Konnte es sein, dass dieser Typ mit der Eidechse ihr Führer war?
Gregor schaute zu den anderen, um von ihnen eine Erklärung zu bekommen, doch was er sah, verwirrte ihn nur noch mehr. Alle standen da wie die Ölgötzen – als hätten sie einen Geist gesehen. Vikus hatte den Arm um Solovet gelegt, und zum ersten Mal fand Gregor, dass sie tatsächlich
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