Grenzwärts
immer von »Transparenz«, wie sie es nannte, gesprochen hatte, und zwar »vollumfänglich«. Obwohl sie ein »Dossier« angefertigt hatte, seitenweise Informationen, die ihm schon auf den ersten Blick teilweise recht nebensächlich vorgekommen waren. Nebelkerzen, die nur verwirrten. Die Ermittlungsergebnisse des BGS gegen Kuhnt dagegen fehlten in diesem »Dossier«. Und das, da war sich Schwartz sicher, war weder ein Versehen noch ein Zufall.
Spielte Liliana Petkovic mit gezinkten Karten? Wenn ja, warum? Was hatte sie vor? Und welche Rolle hatte sie ihm in ihrem Spiel zugedacht?
Warum war er hier?
Er stoppte bei der nächsten Telefonzelle und wählte das LKA in Dresden an. Er wollte Aufklärung, seinem Ärger und seiner Verwirrung Luft machen. Was tue ich hier, hatte er Liliana Petkovic anschreien wollen, warum bekomme ich die fallrelevanten Informationen nicht?
Aber als er ihre rauchige Stimme durch den Hörer vernahm, zögerte er. Vielleicht war es ja besser, noch ein wenig den Ahnungslosen zu geben. Und so legte er den Hörer wieder auf, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben.
Über die B99 fuhr er zum Neißetal zurück. Bevor er die Witwe des Jochen Kuhnt, die rätselhafte Ursula, in Rosenthal besuchte, wollte er noch einen Abstecher zur Teufelsnase machen, jenem verwitterten Felsen über dem Fluss, an dem der BGS -Beamte ein so jähes Ende gefunden hatte.
Leider kam man mit dem Wagen an die Teufelsnase nicht heran. Es gab nur einige Trampelpfade durch feuchtes Unterholz. Wasser troff von den welken Bäumen ringsum, ein stürmischer Wind riss am Schirm und fuhr dem Oberkommissar eisig ins Gesicht.
Wie kann in einer normalerweise so idyllischen Gegend ein so verfluchtes Wetter herrschen, dachte Schwartz. Eine Landschaft wie geschaffen für Romantiker, mit uralten Bäumen und bizarren, moosüberzogenen Felsbrocken über einem lieblich verschlafenen Auental. Grüne Wiesen mit Blumen und Störchen im Sommer. Plätschernde Wasserläufe. Seltene Reiherarten und flinke Eichhörnchen. Jetzt versank das alles hinter einem feuchtkalten Schleier. Fröstelnd versenkte Schwartz abwechselnd mal die linke, mal die rechte Hand in den Taschen seiner Barbourjacke, während die jeweils andere den Schirm halten musste und immer klammer wurde.
Handschuhe wären gut gewesen. Aber die hatte er dummerweise in Dresden gelassen. An alles hatte er gedacht, selbst an seine Wollmütze. Nur an die Handschuhe nicht.
Mit zusammengekniffenen Augen sah er an der Teufelsnase hoch. Wie oft war er als Kind hier herumgeklettert? Einmal musste ihn sogar die freiwillige Feuerwehr retten, weil er sich auf einen dieser nackten Felsvorsprünge gewagt hatte, aber von allein nicht wieder herunterkam. Unten standen die Kinder und schrien: »Äffchen, spring! Äffchen, spring!« Aber er sprang nicht. Auch nicht ins aufgespannte Sprungtuch der Feuerwehr. Er war schließlich kein Affe, sondern ein Mensch. Und als solcher wartete er, bis sie ihm eine Drehleiter durchs Unterholz gewuchtet hatten. Über die stieg er dann, zitternd zwar und völlig durchfroren, aber voller Würde hinab. Die »Äffchen«-schreienden Kinder huldigte er keines Blickes. Er ignorierte sie bis heute.
Sein Blick ging vom Felsen weg über das Neißetal, das sich unter ihm ausbreitete. Der Fluss selbst war kaum zu sehen, Nebel stand über den Wiesen und verstärkte die herbstliche Stimmung. Die Melancholie des Abschieds, dachte Schwartz, Tod und Sterben. Wie eine gigantische verwilderte Grabstätte. Es fehlte nur noch ein altes Kreuz.
Na, vielleicht stellen sie ja dem Kuhnt eins auf, überlegte er, ein Beamter, gefallen im Dienst fürs deutsche Volk. Oder so ähnlich.
Und wenn er gar nicht gefallen war? Wenn es wirklich Selbstmord war, ausgeführt mit der gelähmten rechten Hand? Ein Unfall oder eine blutige Auseinandersetzung zwischen Schmugglern und ihrem korrupten Helferlein? Oder ein ganz banaler Gattenmord?
Was hatte Jochen Kuhnt so plötzlich aus dem Leben gerissen? Und was hatte Liliana Petkovic mit dieser Sache zu tun?
Wofür benutzt sie mich, dachte Schwartz verbittert. Das machte ihm zu schaffen. Er fühlte sich betrogen von dieser »Sehen-Sie-mir-auf-den-Hintern«-Tussi. Na warte, du kettenrauchendes Huhn! Ich werde mich schon noch revanchieren. Und das wird dann bitter für dich.
Langsam wandte er sich ab und stiefelte unter triefendem Geäst hindurch zurück zu seinem Wagen.
Das offenbar erst kürzlich fertiggestellte Eigenheim der Kuhnts lag in einem
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