Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
einer anderen Obrigkeit. Nämlich nach Mainz. Und ausruhen kann sie sich nicht auf ihrem Weg, egal, wie weh ihr alles tut und wie schlapp sie sich fühlt, selbst dann nicht, wenn sie endlich an der Galgenwarte vorbei und aus der Frankfurter Landwehr draußen ist. Keine Minute darf sie trödeln, weil sie nämlich unbedingt um ein Uhr in Höchst das Mainzer Marktschiff kriegen muss. Unbedingt.
Und dann wird sie aufatmen, das schwört sie sich. Wenn sie auf dem Schiff ist, wird sie aufatmen.
In der Ferne ahnt man schon die Galgenwarte.
FREITAG, 2. AUGUST, KURZ NACH EIN UHR NACHMITTAGS
ZUR SELBEN ZEIT, als die Susann tief erschöpft in Höchst am Kai eintraf und ungläubig sehen musste, dass das Mainzer Marktschiff gerade abgelegt hatte und ein Stück flussabwärts schwamm, ziemlich genau in diesem Moment also betrat in Frankfurt die Ursel Königin das feine Haus der Familie von Stockum. Sie war nämlich erst für jetzt dorthin bestellt und keineswegs schon so früh, wie sie heute Morgen im Einhorn vorgegeben hatte. Ein Lakai führte sie nach oben.
Die Demoiselle Lisette von Stockum (demnächst Madame Jean de Bary) bekam heute einen Satz Nachtwäsche angemessen. Grobleinene, für den Winter und vor allem für die gewissen Tage, an denen etwas dickerer, saugfähiger Stoff gefragt war. Zu diesem Behufe hatte ihre resolute Frau Maman erstens Leinen für drei Gulden achtundvierzig erstanden und zweitens der Ursel Königin den Auftrag zum Anmessen und Nähen erteilt. Man konnte eine so schöne junge Braut doch schließlich nicht mit der alten, hässlichen Wäsche in Einheitsgröße in die Ehe gehen lassen! Was aus Sicht der Brautmutter den zusätzlichen Vorteil besaß, dass man, während die Ursel ihrem Handwerk nachging, einen langen Schwatz mit ihr halten konnte oben bei der Lisette.
Deren Zimmer war, wie in Frankfurt üblich, sehr preziös und rokokomäßig geschnörkelt eingerichtet. (Die Frankfurter Handelsleute bauten sich zwar keine Paläste wie die angeberischen Zugereisten Thurn und Taxis, aber irgendwo mussten ja auch sie hin mit all dem Geld.) In dem breitesten, bestgepolsterten nussholzgedrechselten Stuhl hatte es sich die Hausherrin schon in freudiger Erwartung fächerwedelnd bequem gemacht, als die Königin eintraf. Das holde Töchterchen selbst lehnte in taubenblau-weiß gestreiftem Musselin in Polonaisenschnitt an der stark polierten Ankleidekommode und gähnte verstohlen: Was würde das wieder langweilig werden heute Nachmittag mit dem Altweiberklatsch!
Ein bisschen interessant wurde es dann aber doch. Sogar für das Fräulein Lisette.
Indem nämlich die Ursel Königin, kaum war sie drin, mit den Worten herausplatzte: «Ach, Frau von Stockum, Sie ahnen nicht, was ich für eine Nacht hatte! Kein Auge hab ich zugetan! Ich bin ja fast vergangen vor Vapeurs, und das alles wegen dem infamen Mensch, meiner Schwester Susann!»
Die Königin glaubte übrigens diese, nachdem sie sie in ihrer Wohnung nicht mehr angetroffen hatte, wieder zurück im Einhorn bei der Bauerin, wo sie frech ihrer Arbeit nachgehen würde, als wäre nichts, und nebenbei heimlich das Kind aus dem Stall − oje, oje. Daran durfte die Königin gar nicht denken, dann ging es gleich schon wieder los bei ihr mit dem zwanghaften Schlucken und dem Drücken an der Gurgel. Ihre Schwester zur stadtbekannten Hure und gemeinen Verbrecherin verkommen! Und damit von der Schande möglichst wenig an ihr, der Ursel, haften bleibe, die ja schließlich vollkommen unschuldig war an dem, was aus der Susann geworden war, hielt sie es für taktisch klug, sich gegenüber der Frau von Stockum und deren tadellosem Fräulein Tochter nochmals sehr deutlich von der Susann zu distanzieren.
«Was Sie nicht sagt!», bemerkte auf ihre Klage sehr angelegentlich die Frau von Stockum. «Soso! Meine Zeit, wir rechnen ja alle schon lange mit dem Schlimmsten, was Ihre jüngste Schwester betrifft. Jaja. Völlig aus der Art geschlagen, nicht wahr. Und was hat nun das Mensch − so erzähl Sie doch!»
«Ach je, ach je, Sie ahnen nicht!» Die Königin griff schon mal fleißig nach der Schere und schnitt eine Bahn Leinen grob zu. «Erst war sie wie vom Erdboden verschwunden. Nach acht Uhr hat sie keiner mehr gesehen bei der Wirtin. Was denken Sie, was wir Geschwister uns Sorgen gemacht haben. Ich hab mich geradewegs ins Bett legen müssen mit einem Frost. Und dann, mitten in der Nacht, steht sie urplötzlich bei uns vor der Tür und will eingelassen werden! Das ganze Haus hat
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