Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
Gericht. Dies vor allem seine eigene Person betreffend, wo es immerhin darum ging, die ihm drohende Todesstrafe – wegen einer lange Liste von Vergehen von Notzucht bis Urkundenfälschung – in möglichst weite Ferne zu rücken. Hier setzte der berühmte Untersuchungshäftling auf das fleißigste all die beträchtliche Begabung zum Schwadronieren, Fabulieren und Intrigieren ein, die ihm zeit seines Lebens zur Verfügung gestanden und seinen hochedelgeborenen, wohlfürsichtigen Ratsgenossen nach und nach die Nerven blank gelegt hatte, sodass sie ihn am Ende wegen ihrer Nerven eher als wegen seiner tatsächlichen Verbrechen dorthin brachten, wo er sich jetzt bekanntlich befand. Und wo er die edlen Herren Senatores leider noch immer nicht in Ruhe ließ. Wann immer jemand einen Händel mit dem Rat hatte und ein Rechtsgutachten benötigte − der Ratsherr (suspendiert) und Freiherr Erasmus von Senckenberg war in seinem Arrestzimmer im Dachgeschoss der Hauptwache stets zur Stelle. Aber sicher. Gern auch kostenlos. Er hatte ja nun ohnehin kaum Gelegenheiten zum Geldausgeben.
Heute stand leider wenig Interessantes zur Arbeit an. Eigentlich gar nichts. Mal wieder! Missmutig rutschte und schaukelte er auf seinem Schreibtischstuhl. Der knarrte entsetzlich. Das eine oder andere Stuhlbein war schon abgebrochen auf diese Weise, was aber nichts machte, da er Stühle genug besaß. (Hier in seinem Arrestzimmer standen allerdings nur jeweils drei davon.) Herrgott, diese Langeweile!
Sollte er vielleicht wieder eine kleine Enthüllungsschrift über seine liebe Vaterstadt verfassen, so ein stänkerndes kleines Pamphletchen − aber ach, das wurde allmählich auch langweilig. Und außerdem schien es nicht ratsam, jetzt schon alles Pulver zu verschießen. Man würde ja später noch welches brauchen als Erspressungsmittel. Da nämlich der Erasmus Senckenberg keineswegs vorhatte, per Galgen früh zu sterben. Vielmehr wollte er sehr, sehr alt werden – schon, um die werten Collegae im Rat zu ärgern.
Wenn nur nicht diese Langeweile wäre … Da hatten es ja die Kerle unten im Kerker besser! Die kamen wenigstens raus. Jeden Morgen so um sechs sah man sie in Ketten Richtung Festungsanlage abmarschieren, wo sie mit ein paar überflüssigen Ausbesserungsarbeiten beschäftigt wurden. Da schippten sie dann ein bisschen Sand auf und ab, ließen sich die Sonne auf die Nase scheinen und pfiffen den Mädels hinterher. Und nach ein paar Monaten ließ man sie wieder nach Hause zum Weibchen gehen.
Apropos Weiber. Was war das eigentlich gewesen heute Nacht?
Als der Erasmus Senckenberg in die vertikale Sitzposition kippt, quietscht erbärmlich das Stuhlbein auf dem Parkett, er springt auf und zur Tür und hämmert sehr ungeduldig dagegen.
«He! He da! Ja sapperlot nochmal, ist denn da niemand!», ruft er dazu, als erhielte er schon seit Stunden keine Antwort.
«Herr Ratsherr? Jawoll, Herr Ratsherr! Herr Ratsherr wünschen?»
Ein dünnes, unglückliches Stimmchen.
«Setzentreibel! Ist Er es! Ja was, mach Er mal auf! Hopphopp!»
Es klapperte. In der Tür ging der Schlüssel, und dahinter erschien alsbald das nervös gerötete, siebzehnjährige Gesicht des Soldaten Setzentreibel. «Setzentreibel! Ja sag Er mal, was war denn das heute Nacht für ein Krach! Was war denn da los?»
«Ja also, der Herr Ratsherr möchten verzeihen, öh, ich hab geschlafen heut Nacht, das heißt−»
«Na! Ist da etwa eine Meldung an die Tore gegangen! Das muss Er doch wissen!»
«Ach so, aja, da ist wohl eine Meldung zum Zirkulieren raus. Jawoll.»
«Ja hopphopp! Was für eine?»
«Na wegen der Weibsperson. Eine Weibsperson soll gefasst werden. Eine Belohnung soll’s auch geben.»
«Ja warum denn? Warum denn? Na!»
«Ei, die soll heimlich geboren haben. Soviel ich weiß.»
«Soviel Er weiß, soviel Er weiß! Na! Genauer geht’s nicht? Alter! Aussehen! Stand!»
Der Soldat Setzentreibel machte eine unwillige Miene angestrengten Nachdenkens. «Ei, jedenfalls eine junge Person soll es sein. Ein paarundzwanzig Jahr, langer Statur, Berliner gewürfelter Rock, öhm, momentemal, kattunene Schürz oder Jack. Naa, mehr weiß ich jetzt nicht.»
«Und das Kind? Hat man das gefunden, das Kind?»
«Aja freilich, das hat man gefunden.»
«Tot oder lebendig.»
«Ja tot, nehm ich an. Sonst würd man doch das Weib nicht −»
«Papperlapp! Natürlich würde man! Heimliche Geburt und verheimlichte Schwangerschaft sind an sich strafbar! Idiot, Er!»
Hierauf fiel dem
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