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Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)

Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)

Titel: Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Berger
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Rücken, der zieht die ganze Zeit. Dann ist sie draußen.

SAMSTAG, 3. AUGUST 1771, SIEBEN UHR MORGENS
    DER ORDONNANZOFFIZIER BRAND hatte eine kurze Nacht. Seit fünf schon war er wieder auf den Beinen. Eben verließ er, in höchster dienstlicher Eile, das Haus vom Arzt Dr.   Senckenberg. Und obwohl diesmal die Adresse stimmte (da der Brand ja nun weiß, dass der Doktor Senckenberg sein Vaterhaus in der Hasengasse vor drei Jahren verkauft hat), obwohl er also heut früh an der richtigen Adresse war, hat er sich doch wieder umsonst bemüht. Denn der Dr.   Senckenberg hatte, für den Sergeanten gut hörbar, von oben seiner Dienstmagd zugerufen:
    «Ei, sag Sie ihm, ich bin verhindert. Und zwar durch mein Gewissen, das verbietet mir, dass ich mit einem Erzschurken wie dem Gladbach Verkehr hab.»
    Der vom Dr.   Senckenberg so verachtete Kollege Dr.   Gladbach war seines Zeichens oberster Stadtarzt oder Physicus primarius. Den Gladbach hatte sich der Sergeant Brand als letzten aufgehoben von sämtlichen amtlichen Frankfurter Medizinalpersonen, denen allen er heute früh leider eine Ladung aussprechen musste. Je feiner nämlich die Herrschaft, desto weniger wollte er die Impertinenz haben, zur Unzeit am frühen Morgen zu stören. Also hatte er seine Ladungen die Dienstleiter aufsteigend vorgebracht: erst bei den geschworenen Chirurgis oder Wundärzten, und zwar bei den vier gewöhnlichen, wie es sich von der Lage ihrer Domizile beim Laufen am günstigsten ergab, und nachher bei dem Seniorchirurgen. Sodann war der städtische außerordentliche Physicus und Geburtshelfer dran gewesen, der Dr.   Grammann, der kein Gehalt, sondern im Fall einer Amtshandlung bloß Spesen bezog. Hierauf der jüngere Physicus ordinarius, nämlich der Dr.   Pettmann (Cousin des Kaiserlichen Rats Caspar Goethe), über dem wiederum in der Rangfolge der ältere Physicus ordinarius Dr.   Senckenberg kam.
    Und nun endlich wäre eben der Rang- und Dienstälteste von den Herren Physici dran – der Dr.   Gladbach. Da kommen dem Sergeanten Brand jetzt aber kurz vor knapp Zweifel, ob seine Vorgehensweise richtig war. Ob es nicht vielmehr eine Impertinenz darstellen wird, wenn er ausgerechnet den Physicus primarius jetzt als Allerletzten informiert über den vom Jüngeren Herrn Bürgermeister anberaumten Termin um neun Uhr im Spital zum Heiligen Geist.
    Und in der Tat sollte sich dies als kapitaler Fehler erweisen.
    Der Dr.   Gladbach bewohnte ein leicht heruntergekommenes Haus mit Wasserspeier an der schmalen Front, ließ den Sergeanten auf der Schwelle warten und erschien erst nach einer guten Weile – ein alter Herr, dessen lange Gestalt einen kleinen Buckel machte, wodurch der Kopf immer etwas nach vorne gebeugt war, das Gesicht blatternnarbig, der Ausdruck ungehalten.
    Um neun Uhr? Ja, bei allen guten Geistern. Das Peinliche Verhöramt möchte doch gefälligst die Termine mit ihm zunächst absprechen! Bevor man alle Pferde scheu mache! Um neun Uhr ist er nicht disponibel, keineswegs, und eigentlich den ganzen Tag nicht, er hat noch andere Verpflichtungen (soll er von den siebzig Gulden städtischen Bezügen im Jahr plus zehn Malter Korn etwa leben?). Erbprinzen sind unter seinen Patienten, die Stadt muss froh sein, dass er sich überhaupt in seinem Alter noch zur Verfügung hält, und im äußersten Fall, im alleräußersten, da könne er vielleicht, weil es offenbar eine eilige Sache sei, so um zwei Uhr sich im Hospital einstellen, und die Ordonnanz möge dies dem Jüngeren Herrn Bürgermeister alsbald mitteilen und dann eben die anderen Kollegen für zwei bestellen, nicht wahr, das Kindchen werde bis dahin schon nicht verfaulen. Er müsse doch sehr bitten, bei allen guten Geistern!
    Um neun konnte der Dr.   Gladbach wirklich nicht. Indem er nämlich, gegen seine Hartleibigkeit und zur allgemeinen Gesundheitsvorsorge, früh um sechs seine guten alten Frankfurter Pillen in größerer Dosis einzunehmen pflegte, deren erleichternde Wirkung sich gewöhnlich so zwischen neun und elf einstellte. Dann wollte der Dr.   Gladbach im Privet länger seine Ruhe haben und nicht etwa im Hospital mit einem Trupp Kollegen herumstehen müssen.
    Der Sergeant Brand verschwendete einen kurzen undienstlichen Gedanken an seine Müdigkeit und seine Hühneraugen und schritt dann flott einher, um dem Jüngeren Herrn Bürgermeister die befohlene Mitteilung zu machen − worauf er leider in umgekehrter Reihenfolge sehr eilig alle von ihm am Morgen besuchten Mediziner

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