Grim - Das Erbe des Lichts
erwiderte sie eindringlich. »Das musst du selbst tun! Aber es ist so viel leichter, dein menschliches Ich zu verleugnen und dem zu folgen, was du jahrhundertelang warst: dem Anderwesen, das den Menschen fremd bleibt. Es ist so viel leichter zu zweifeln, als sich der Hoffnung hinzugeben, nicht wahr?«
Grim sah sie an, und sie erkannte eine Kälte in seinem Blick, die sie seit langer Zeit nicht mehr darin gesehen hatte. »Tu nicht so, als würdest du nicht zweifeln«, grollte er dunkel. »Aufgrund deines Zweifels wolltest du Jakob in diese Welt zurückholen — damit er dir zurückgeben kann, was du Stück für Stück verlierst, genauso wie ich! Auch du hast Angst, Mia, Angst davor, dass du deine Aufgabe als Hartidin niemals erfüllen wirst. Und vielleicht ...« Er hielt kurz inne, und für einen Moment wünschte sie sich, dass er nicht aussprechen würde, was sie in seinen Augen bereits lesen konnte. »Vielleicht hast du mit deinem Zweifel recht.«
Sie wich vor ihm zurück. Langsam schüttelte sie den Kopf. »Du wirst niemals eine Heimat finden, solange die Welt ebenso zerrissen ist wie das, was du in dir trägst. Ist es unser Traum nicht wert, dass du an ihn glaubst?«
Grim antwortete nicht. Er sah sie nur an aus seinen tiefschwarzen Augen, fern und fremd wie damals, als sie in Monsieur Pites Zimmer geraten war — so als hätte er eine Mauer um sich gezogen, die niemand durchdringen konnte, nicht einmal er selbst. Sie schlang die Arme um den Körper und wandte sich ab.
Da hob Theryon die Hände. »Carven ist derjenige, den wir gesucht haben. Ein großes Erbe liegt auf seinen Schultern, und es ist wahr: Er ist noch ein Kind. Wir müssen ihn finden und ihm helfen, seine Aufgabe anzunehmen und zu bewältigen. Wir ...«
Weiter kam er nicht. Mia sah noch den grellen Blitz, der Theryons Rücken traf. Dann fühlte sie einen heftigen Schlag am Kopf und ging zu Boden. Instinktiv legte sie einen Schutzschild über die anderen und sich selbst, doch er wurde sofort wie eine Seifenblase von flammenden Pfeilen zerfetzt. Sie spürte Grims Klaue an ihrem Arm, er zog sie auf die Beine und umgab sie mit dem goldenen Schild höherer Magie. Noch halb benommen schickte sie einen Eiszauber in ihre Hand, richtete den Blick zum Himmel, dorthin, wo der Blitz hergekommen war — und erstarrte. Dort schwebte eine pechschwarze Gestalt auf einem geflügelten Panther, die Mia nur zu gut kannte: Alvarhas. Sieben Alben waren sein Gefolge, allesamt saßen sie auf schwarzen Untieren, die nun die Mäuler aufsperrten und gierig brüllten. Alvarhas lachte laut und durchdringend, als er mit seinem Panther im Sturzflug auf sie niederschoss, dicht über ihren Köpfen abdrehte und tiefe Kratzer in ihrem Schild hinterließ.
»Krieger des Lichts!«, brüllte er, dass seine Stimme in den Straßen widerhallte. »Ich weiß, dass du mich hören kannst! Komm heraus und spiel mit mir — oder ich halte mich an deine Freunde!«
Mia hörte, wie unter ihnen im Hotel die Fenster geöffnet wurden und Menschen aus den umliegenden Häusern auf die Straße traten. Fassungslos und wie träumend schauten sie zu Alvarhas auf, der ihnen einen kalten Blick zuwarf.
»Seht her«, flüsterte er mit grausamem Lächeln. »Seht auf zu jenen, die euch töten werden!«
Dann riss er den Kopf herum und trieb seinen Panther an. Noch im Flug sprang er von dessen Rücken, landete auf dem Dach des Hotels und streckte sein Rapier in die Luft. Seine Schergen taten es ihm gleich, mit rauschenden Schwingen rasten die Panther heran.
Mia presste die Zähne aufeinander. Alvarhas hatte sie belauert und die erstbeste Gelegenheit genutzt, um zuzuschlagen. Er würde Carven zwingen, aus seinem Versteck zu kommen — und dann war alles verloren.
Schon stürzte Alvarhas über das Dach vor. Mia hörte die erschrockenen Stimmen der Menschen, Grim baute sich schützend vor ihr auf, doch der frei laufende Panther des Albs ergriff ihn mit seinen Pranken und schleuderte ihn quer über das Dach. Ohne auf Mia zu achten, setzte Alvarhas hinterher, doch Grim schickte ihm einen glühenden Pfeil entgegen, traf ihn an der Schulter und schleuderte ihn zu Boden. Wutentbrannt sprang Alvarhas auf die Füße, riss sein Rapier in die Höhe und stürzte sich auf Grim. Gleichzeitig raste Theryon gemeinsam mit Hortensius heran. Sie trugen ein goldenes Netz zwischen sich, sprangen wie auf Kommando auseinander und wickelten einen Alb samt Panther in das tödliche Geflecht. Gleich darauf zerriss der heisere Schrei
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