Grim - Das Erbe des Lichts
für immer unmöglich machen wird! Stimmt meinem Antrag zu — euch erwächst kein Nachteil daraus!«
Da hob Framus den Blick. »Ich mochte die Menschen nie sonderlich«, sagte er mit einem schelmischen Lächeln. »Sie haben merkwürdige dünne Haut, immerzu Flausen im Kopf und sind außerdem viel zu groß. Aber
einen
Menschen habe ich gern — sehr gern sogar, und das nicht nur, weil ich dieses Mädchen als tapferes, mutiges Geschöpf kennenlernen konnte. Ich habe auch gesehen, wie sie euch betrachtet — ja, euch alle, die ihr hier sitzt. Sie liebt die Anderwelt, hört ihr? Und wenn sie an unserer Stelle wäre, würde sie nicht zögern. Sie würde für jeden von uns in die Schlacht ziehen. Das haben wir ihrem Volk heute versagt. Doch sie werde ich nicht im Stich lassen, und auch ihr, die ihr an den Menschen zweifelt und ihnen einen Denkzettel wünscht, solltet eines niemals vergessen: Werdet nicht wie die, die ihr verachtet!« Mit diesen Worten streckte Framus die Hand in die Höhe. »Ich stimme dafür!«
Atemlos sah Grim zu, wie eine Hand nach der anderen nach oben schnellte, bis seinem Antrag zugestimmt worden war. Erleichtert warf er Mourier einen Blick zu und nahm das Zepter in Empfang. Mit klopfendem Herzen sprach er den Zauber, sanfte Wellen aus Licht strömten von dem Artefakt aus, füllten den Raum und drangen durch die Wände des Schwarzen Dorns wie durch Nebel. Gleich darauf ging ein Seufzen durch den Saal, es hörte sich an wie das Stöhnen eines langsam zum Stehen kommenden Zuges. Grim löste das Zepter von seinem Arm und reichte es Mourier. Sein Zauber lag auf der Grenze zur Feenwelt und verlangsamte ihren Verfall — doch aufhalten konnte er ihn nicht.
»Verurteile die Ghrogonier nicht für ihre Furcht vor den Menschen«, raunte Mourier leise, während er sich das Zepter wieder anlegte und im Saal Gemurmel aufbrandete. »Hätten die Sterblichen in der Vergangenheit von unserer Existenz erfahren — wir wären allesamt vernichtet worden. Zumindest hätte es Krieg gegeben und zahlreiche Verluste auf allen Seiten. Du weißt, dass viele hier derlei Erfahrungen mit den Menschen bereits machen mussten. Dennoch ...« Er beugte sich zu Grim herüber, und auf einmal war das Flackern in seinen Augen zurück, das ihn als den Löwen zu erkennen gab, der mit Grim Seite an Seite um die Freiheit Ghrogonias gekämpft hatte. »Ich weiß, dass es Ausnahmen gibt, und Mia gehört ganz sicher dazu. Sollte es also zu einem Kampf kommen, in dem ein Löwe gebraucht wird — dann wisst ihr, wo ihr mich findet.«
Gerade hatte er die Sitzung beendet, als ein Ton die einbrechende Unruhe durchzog. Grim fuhr zusammen, es war, als hätte ihm jemand einen Dolch in den Nacken gestoßen. Schreie erklangen um ihn herum, die Senatoren fielen auf die Knie und hielten sich die Hände vor die Ohren. Der Ton wurde lauter, es war ein langer, durchdringender Klagelaut von solcher Tiefe, dass er Grims Knochen zum Erzittern brachte. Niemals hatte Grim ein solches Geräusch gehört, doch er hatte von ihm gelesen — von diesem sehnsuchtsvollen, geisterhaften Weinen, in dessen Angesicht die Gesänge der Sirenen nur blasse Schatten waren. Remis holte scharf Luft und für einen Moment setzte Grims Herzschlag aus.
»Banshees«, flüsterte er. »Die Todesbotinnen der Feen.«
Grim sprang auf die Beine. So schnell er konnte, breitete er seine Schwingen aus und raste gemeinsam mit Remis über die Köpfe der Senatoren hinweg aus dem Saal.
Theryon lag im Sterben.
Kapitel 18
ia saß auf einer der marmornen Bänke vor dem Senatssaal, als die Gesänge begannen. Sie waren laut und durchdringend wie das heisere Schreien von Krähen über schneebedeckten Feldern. Mia presste sich die Hände gegen die Ohren, doch die Stimmen der Todesfeen drangen durch ihr Fleisch und wühlten sich mit schneidenden Schreien durch ihr Inneres. Mit zitternden Lippen flüsterte sie einen Schutzzauber, der sich wie eine flackernde Hülle über ihren Körper legte und die Gesänge dämpfte. Theryon hatte ihr von den Banshees erzählt, jenen Feen, die nach irischem Volksglauben einen bevorstehenden Tod innerhalb einer menschlichen Familie ankündigten, in Wahrheit aber Todesbotinnen waren und für zahlreiche Wesen ihre Lieder sangen. Manchmal waren die Gesänge sanft und tröstend, manchmal wütend und schrill und mitunter so sehnsuchtsvoll, dass sie jeden Sterblichen, der ihnen zuhörte, auf der Stelle töteten. Nur der Sterbende selbst hörte die Stimmen der Banshees
Weitere Kostenlose Bücher