Grimms Erben
Händen. Wieder laufen Tränen, das ist nun mal so, wenn man Schläge auf die Nase bekommt oder wenn man unglaublich wütend ist oder wenn man unglaublich geschockt ist oder wenn man unglaubliche Schmerzen im Gesicht verspürt oder wenn man denkt, dieser Tag – einfach unglaublich. Und dieses ewige, bis aufs Mark reizende »Ich verfluche dich!«, gepaart mit den Verleumdungen, welche Manipulationen Dritter fördert und Lochers Ansehen noch mehr verunreinigt. Wie ein weggeworfener Kleidersack kauert er auf der Hinzestraße. Locher erspäht die krakeelende alte Hexe in ihrem Rollstuhl. Ihr faltiges, zerrissenes Gesicht ist in rote Farbe getunkt. Ihre dünnen, in hellblauer Angorawolle steckenden Arme fahren unkoordiniert auf und ab.
»Baba Jaga Kowalski, was habe ich dir nur angetan?«
Baba Jaga Krawallski platzt: »Du unehelicher Locherbalg, ich verfluche dich. Bis in alle Ewigkeit. Du Lügner! Du Dieb! Du Steuerhinterzieher! Du Brandstifter! Du Versicherungsbetrüger! Du…«
Bitte hören wir weg, selbst für uns Leser wird diese zerschmetternde Litanei an Beschimpfungen unausstehlich. Wie muss sich Locher fühlen?
Ein wässriger Blick auf sein Fahrrad verrät: Das Vorderrad ist stark verbogen. Als Verkehrsmittel unbrauchbar. Plötzlich bekommt Locher einen unsagbaren Hass auf die alte Kowalski, die immer noch zürnt und spukt.
Einige verhallende »Ich verfluche dich« schweben noch an sein pfeifendes Ohr. Locher zieht gekrümmt, geschlagen, gedemütigt und gezeichnet ab, wie die 6. Infanteriedivision von Napoleon Bonaparte nach der Schlacht bei Belle-Alliance. Der heutige Tag ist sein persönliches Waterloo. Unter seinem linken Arm schleppt er seinen beschädigten, verletzten, treuen Adler die letzten Meter zu seinem Haus. Ein rotes Dreieck breitet sich auf dem Parka und dem Hemd auf der Höhe der Brust aus. Ein Zeichen der Solidarisierung alles Bösen, das sich gegen ihn gewendet hat.
Heim, endlich nichts wie heim. Für immer schlafen.
E – BLUTMALE UND ANDERE SCHMIEREREIEN
»Sie! Äh, Entschuldigung.« Kurze Pause. Dann: »Sie!«
Locher stößt müde das Gartentor auf, als er hinter sich eine unbekannte Stimme vernimmt. Er dreht sich um, noch bevor er das Tor passiert und blickt in das Gesicht eines Polizisten, der sich mit seinem fülligen Oberkörper weit aus seinem Autofenster lehnt. Es ist der Fahrer selbst, der verbotenerweise die Fahrbahn wechselte und nun das Polizeiautomobil vor Locher zum Stehen bringt. Das Blaulicht schmeißt stille Lichtkegel in die Luft.
»Sie! Sind Sie Locher?«, wiederholt der Polizist.
»Sie, ja, das stimmt. Ich bin August Locher«, provoziert Locher leicht. Er stellt sein Rad am Gartentor ab.
»Gut«, sticht der Fahrer hervor, würgt den Motor ab, bedeutet seinem Beifahrer auszusteigen und schwingt sich selbst so elanvoll, wie seine Körperfülle es zulässt, aus dem Auto. Er tritt dann aber doch eher gemütlich, seine Hose am Gürtel packend und auf Anschlag hochziehend, auf Locher zu. Der denkt nichts. Was soll denn noch kommen?
»Also, Locher August?« Dass der sprechende Polizist seine Stimmlage am Ende von August nach oben befördert, verdeutlicht, dass dies eine Frage war.
Das hab ich doch gerade gesagt.
Der andere Polizist, ein sehr junger Blonder, wackelt unsicher hinter dem offenbar Höherrangigen her. Weißer Flaum sprießt auf der Oberlippe und an den Wangen. Seine roten Pupillen schießen aufgeregt hin und her, während er sich ständig mit der Zunge über die Unterlippe fährt.
Die Präsenz der Grünröcke, wie Lochers Opa die Gendarmerie immer nannte, wirkt nicht unheilvoll. Locher fühlt nichts.
Der erste Polizist tippt sich auf seinen Stern am Revers und spricht: »Oberwachtmeister Saller. Guten Tag. Sind Sie August Locher? Gut.
Ich würde mit Ihnen gerne reden…. äh… Locher, das ist mein Kollege
Brinkmann.« Der tippt sich an die Mütze. Saller fährt fort: »Wir haben da Hinweise erhalten. Hinweise… äh… Locher, Sie haben da Blut an Ihrem Hemd. Und auf Ihrer Jacke auch. Alles in Ordnung?«
Locher nickt.
»Hinweise aus der Nachbarschaft, dass Sie vor ein paar Tagen in Ihrem Garten verbotenerweise Feuer gemacht haben.«
Ein prüfender Blick verlässt Oberwachtmeister Sallers Gesicht. Dann fährt er fort:
»Öffentliche Feuerstellen sind in dieser Gegend der Stadt strengstens untersagt.«
Locher glaubt kaum, was da aus den Mündern der Exekutiven kommt.
»Was?«
»Sie haben offenbar ein Feuer gemacht, Herr Locher. Einige Nachbarn
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