Grimms Erben
aber er weiß ja oft nicht, was hinter seinem Rücken geschieht. Sein Vogel. Möglicherweise ist er für diese Scherben verantwortlich – irgendwie.
Ächzend kniet er sich nieder und beginnt die Scherben aufzulesen.
Scherben bringen Glück.
Die Hand voll von zerbrochenem Glas rafft er sich zum Abfalleimer unter der Spüle und lässt vorsichtig die Scherben aus seiner Hand in den Eimer gleiten. Jetzt erkennt er, dass auch in der Spüle Scherben liegen. Große Scherben. Glatte Scherben.
Locher kann sich keinen Reim darauf machen. Aber doch passend zur Lage: Mein Leben — ein Scherbenhaufen.
Dann spürt er einen Luftzug, der ihm ins Gesicht stößt. Instinktiv will er das Fenster schließen, das er eigentlich gar nicht geöffnet hatte, bevor er in diesen schicksalsträchtigen Tag schritt. Er beugt sich über die Spüle zum Fenstergriff hin. Nun fällt es ihm auf: Das Fenster ist offen, aber der Rahmen geschlossen. Sofort fällt es Locher wie Schuppen von den Augen.
Björn-Ben, das Mistkind der Wolfs.
Der Nachbarsbengel muss das Küchenfenster eingeschlagen haben. Oder eingeworfen. Oft genug steht der Balg im Wohnzimmer der Bonzenhütte seines Mercedes-Vaters und stiert in Lochers Haus. Erst heute Morgen stand er sogar vor diesem Fenster im Garten.
Locher dreht sich um, sucht auf dem Küchenboden nach einem Wurfgeschoss, das die Fensterscheibe zum Bersten brachte und logischerweise hier irgendwo noch liegen muss. Ein Stein oder so was. Wahrscheinlich ein Stein. Locher befürchtet, dass sein Vogelfreund Nilrem durch das Fenster geflattert ist. Im selben Moment erkennt er das Tierchen aus dem Augenwinkel. Es ist schon noch da. Aber da ist mehr als der gelbe Kanarienmensch, wie ihn Locher liebevoll nennt. Weitaus mehr.
Lochers Atmung stoppt.
Lochers Herzschlag stoppt.
Lochers Augenlicht versagt.
Schwarz. Alles schwarz.
Dann ein harter Aufschlag seines Körpers auf den PVC-Boden.
Blut ist das Erste, was Locher sieht – und schmeckt, als er seine schweren Augenlider öffnet. Seine Nase – wer will raten? Wieder blutend vom harten Aufschlag.
Gebrüder Grimm im Himmel.
Ein Pfeil steckt da in der Tapete. Ein grauer Aluminiumpfeil mit blaugrünen Federn. Zwischen Pfeil und Tapete ein gelber Kanarienvogel. Aufgespießt. Gelbrot hebt sich das Tierchen von der Tapete ab. Die Flügel, noch vom Versuch dem tödlichen Pfeilgeschoss zu entrinnen, gespreizt. Aus Lochers Mund dringen undefinierbare Laute. Er spürt, wie sein Herz explodiert. Als ob eine Horde Zwerge in seinem Inneren Sprengladungen zündet. Dann bricht Locher wieder in sich zusammen.
Als Locher die Augen öffnet, steht der kindliche Vogelmörder vor dem Haus, seine Finger stecken in den vorderen Taschen seiner Cordhose. Er gafft über den Zaun in Lochers Küchenfenster, blickt auf ein wimmerndes Bündel, das sich vom Küchenboden abhebt. Björn-Ben grinst hämisch und denkt: Da liegt er, der blöde Locher.
Plötzlich nehmen ihn zwei blutunterlaufene Augen ins Visier. Aus tiefen, dunklen Augenhöhlen funkeln sie durch die kaputte Scheibe. Sie fixieren Björn-Ben. Sie versprühen Unheil. Versprechen bittere Rache. Ein animalischer Schrei dringt aus Lochers brennender Kehle. Ein Laut, der aus dem »Bestiarium von Freyung« zu entstammen scheint.
Lochers Gesicht färbt sich rot. Rot wie Blut.
Björn-Ben hört auf zu grinsen. Angst steigt in ihm auf. So stark und plötzlich, dass er sich vollpisst. Sein Gesicht ist bleich, die Haut fast weiß. Weiß wie Schnee.
Lochers Herz färbt sich weiter schwarz. Schwarz wie Ebenholz.
Beschaffungsmaßnahmen
Das Herz eines Handwerkers schlägt hoch, sobald er einen Baumarkt betritt.
Wie bei einem Kind vor einem Bonbonladen funkeln die Augen des Amateur- beziehungsweise Profihandwerkers. Da wird die Schlagbohrmaschine zum Zuckerstangerl, der Kärcher Dampfstrahler zur Kokoswaffel, die Hilti zum Magenbrot und Verlängerungskabel zu sauren Schnüren. Jetzt mal so vergleichend betrachtet: Kind-Handwerker. Oder umgekehrt. Das Handwerkerherz verformt sich jedenfalls zu einem dicken Ausrufezeichen.
Auch Lochers Herz schlägt wie wild. Zumindest das, was davon übriggeblieben ist. Nicht etwa vom Anblick der tausend Baustoffe und Werkzeugartikel, sondern von getaner Arbeit. In seinem Warenkorb – wie ein Transportpanzer rollt das schwere Gefährt durch die Gänge – liegen:
Ein Fuchsschwanz (Säge)
Bretter
Einige Rollen Klebeband, sozusagen Gaffatape in diversen Farben
Teppichmesser samt Ersatzklingen
Bauschaum,
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