Größenwahn
gut durch Instinkt, wenn er ein Schiff auf dem Ganges anfällt, daß er dabei umkommt, daß eine Gewehrkugel ihn dabei treffen muß. Aber er thut es doch! Jede Leidenschaft ist unzurechnungsfähig, so auch die eines ganzen Zeitalters, wie die der Renaissance und unsrer Tage – und diese dämonische Leidenschaft heißt: Größenwahn, von Sich-reden-machen um jeden Preis! «
Rother hatte schon bezahlt, weil er fand, das Gespräch nehme eine ungemüthliche Wendung, und Annesley gerieth wirklich in nervöse Unruhe – wie gewöhnlich, wenn es auf Mitternacht gehe, erklärte Rother. So brach man denn auf.
Draußen vor der Thür, als man von der Kellertreppe auftauchte, schritt grade ein Paar vorüber, – gewaltig ausholend, als solle Alles ihrem schweigenden »Platz Da!« Luft machen, – bei dessen Anblick die zwei Dichterdioskuren in ein schallendes Gelächter ausbrachen.
»Seht ihn euch an, seht ihn euch recht an, Kinder!« schrie Schmoller »Der Eine von diesen Bourgeois ist der grauße Drechsler-Caballo vom ›Stuß‹ – der Sie auch angeulkt hat, Rother, wie Jeden, der Saft und Kraft im Marke hat. In seiner ungeschorenen langen Simsonmähne steckt sein ganzer Ulk, wie eine Laus. Er leidet an Reim-Darmverschlingung und Schimpf-Diarrhoe. Ihm soll der weise Merlin prophezeit haben: Eine Delilah werde ihm mit der großen Scheere des Fenilleton-Sitzredacteurs Doctor Gotthilf Kleisterpott das Haupthaar stutzen. Die Gelehrten sind aber noch uneinig, ob die Prophezeiung auf Frau Doctor Bergmann, Chef-Dame der ›Tagesstimme‹, oder auf die Dichterin Ulla Wank hindeutet. Hehe, altes Erbstück, olles Inventar!« grölte er den majestätisch Enteilenden nach. »Und der Andre – dies fettige Oelgesicht! Jöttlicher Joethe, wer sollte Dir nicht kennen! ›Die Familie Schreibold!‹ Fünfzigtausendste Jubiläumsauflage! Dieser Mensch! hat ins Berliner Leben noch kaum hineingespuckt!«
Sie waren während dieser Ciceronianischen Invective bis vor den »Reichsadler« gelangt. Soeben spazirten ein paar Mägdelein, offenbar dort mimende Tingeltangelleusen, zum Thor heraus und begaben sich auf den Heimweg – eine kleine Junge und eine dicke Alte. Bei dieser Lichterscheinung zuckte Annesley krampfhaft zusammen und faßte Rothers Arm, indem er den Göttinnen nachstierte. »Sie ist's!« flüsterte er theatralisch mit einer Grabesstimme.
»Herr Gott, beruhigen Sie sich doch, alter Junge!« tröstete ihn Rother freundlich. Schmoller aber, der die Scene beobachtet hatte, verabschiedete sich eilig; er habe noch eine Verabredung: »Fahren Sie sowohl als auch! Komm, Leonhart! – Denk Dir doch nur,« rief er, als sich die beiden Paare nach verschiedenen Richtungen von einander entfernten, »das ist ja die bewußte unglückliche Flamme dieses Größenwahnsinnigen, der den ›wilden Engländer‹ macht. Die müssen wir mal ausholen. Das ist Die, – erinnerst Du Dich, wie Rother uns das Gedicht vorlas, Text und Musik von Fedor Waschlapply (zu Deutsch: F.H. Annesley), mit dem Refrain: ›Jetzt weiß ich es, wir sehen nie uns wieder‹? Vorwärts!« Sie blieben den beiden Chansonneusen auf dem Fuß, bis sie dieselben erreichten.
»Mein schönes Fräulein, darf ich's wagen,
Meinen Arm und Geleit ihr anzutragen –
zum Café National nämlich?« fragte Schmoller graziös. »Wie wär's, Kleine, he?«
»Ach Sie! Was wollen Sie denn eigentlich!«
»Mit Dir der Morgenröthe entgegenwandeln, o Aurora!« Leonhart umfaßte burschikos die Hüfte der Alten. »Na Sie aber doch! Aurora in Oel!«
»Lassen Sie meine Tante in Ruhe!« kreischte die Kleine.
»Nun macht keine Geschichten, Kinder. Ich spendire sogar einen Sherry-Cobler!« verhieß Leonhart. Dem vermag kein asphaltenes Straßenpflaster-Herz zu widerstehn – und so saßen sie denn alsbald in der ungesunden Stickluft der nächtlichen Markthallen für Weiberfleisch.
»Du, Maus, Du hast ja einen Liebespickel! Bist Du nicht mein kleiner schneidiger Fritze?« knüpfte die Kleine cordial an, indem sie Leonhart ins Knie kniff.
»Sage mal, liebes Kind,« hob Schmoller an, »ich habe nämlich von Dir gehört – von einem verstorbenen Freund.«
»Ach Falle! Das kennt man.«
»Nein, auf Taille! – Von Henry Francis Annesley.«
»Ach Jemine, is der todt?« Die Kleine hob einen Augenblick die Lippen von dem Lutsch-Halm ab, mit dem man den Sherry-Cobler auszuschlürfen pflegt.
»Ja. Sage mal, Du sollst ja Jungfrau gewesen sein, als er Dich verführte?« Die beiden Damen ließen
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