Grote, P
bei mir. Sie waren nirgends zu erreichen.«
Harms schüttelte den Kopf und sah seine Begleiter an, als hätte er einen Schwachsinnigen vor sich.
»Was soll die Farce?«, fuhr ihn Martin an. Dann drehte er die Flasche und sah erstaunt aufs Etikett. Die Farben stimmten mit dem, was er in Constanţa flüchtig gesehen hatte, überein, aber hier stand nichts von einem Zodiac. Statt eines Tierkreiszeichens war eine Windrose abgebildet. Er hätte schwören können ... »Wo ist der Zodiac? Herr Harms?«
»Ich kenne Sie nicht, mein Herr«, antwortete der andere auf Englisch. Unschuldigere Augen konnte selbst ein Kind nicht haben. Seine Begleiter, die Honeckertypen, wirkten peinlich berührt. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen und was Sie von mir wollen. Bitte, lassen Sie uns in Ruhe, Sie belästigen uns. Gehen Sie bitte!« Mit den letzten Worten war sein Ton schärfer geworden. »Und hören Sie auf, in dieser unverständlichen Sprache zu sprechen. In Rumänien sprechen wir rumänisch. Englisch benutzt man nur aus Höflichkeit, die aber scheint mir bei Ihnen überflüssig zu sein.«
»Hören Sie zu«, erwiderte Martin erbost. »Wegen Ihrer Dokumente habe ich nichts als Ärger bekommen. Sie haben mir diese Namensliste gegeben, nach Weinbauregionen geordnet, hinterher hat die Polizei sie beschlagnahmt. Ich will wissen, was das alles zu bedeuten hat. Weshalb streiten Sie ab, mich zu kennen? Für wen arbeiten Sie eigentlich?« Er war ziemlich laut geworden.
Mit einem Mal standen zwei Männer hinter ihm und packten ihn an den Armen.
»Sie belästigen unsere Gäste«, sagte der Ober. »Mäßigen Sie sich. Verlassen Sie sofort unser Restaurant, andernfalls . . .«
Er führte den Satz nicht zu Ende. Die beiden stiernackigen Türsteher hoben ihn hoch und trugen ihn zur Tür.
23
»Ich habe Angst. Wenn Sie so wollen, habe ich bereits mein ganzes Leben lang Angst. Das Erste, woran ich mich als Kind erinnern kann, war die Angst.« Professor Vasile Manoilescu rollte gedankenverloren den Bleistift zwischen den Fingern beider Hände, er bedeutete Martin, sich kurz zu gedulden, und schrieb etwas auf das vor ihm liegende Blatt Papier.
Das Alter des Professors für Weinbau und Kellertechnik an der Forschungsanstalt war schwer zu schätzen. Er mochte zwischen sechzig und siebzig Jahre alt sein, er war noch nicht zur Gänze ergraut, die Mundwinkel hatten noch nicht die Abwärtsbewegung des Alters angenommen, und er war schlank, die Bewegungen jedoch waren langsam. Beim Sprechen folgte die Mimik der Dramaturgie des Gesagten, was den Eindruck verstärkte, dass er sowohl ehrlich wie auch geistig lebhaft war. Er war einer der wenigen Rumänen, die Martin nicht mit Misstrauen begegneten. Der Grund dafür konnte im häufigen Umgang mit vielen jungen Studenten liegen und in seiner Auslandserfahrung. Er sprach ausgezeichnet Französisch, da er die Einfuhr von Weinflaschen wie auch die von Klonen aus Frankreich wissenschaftlich betreute.
»Sie werden sich wundern, solche Worte aus dem Munde eines alten Mannes zu hören. Ich kann Ihnen genau sagen, um welche Angst es sich handelt. Zuerst war es die Angst vor der Diktatur Marschall Antonescus, die übertrug sichwohl von meinen Eltern auf mich als Kind. Dann kamen die deutschen Bombenangriffe auf Bukarest, nachdem wir die Seiten gewechselt hatten. Dann hatten wir vor den Kommunisten Angst, vor Spitzeln, vor dem Hunger und besonders davor, die Meinung zu sagen, später in der Forschung und in der Lehre. Dann kam die Angst vor dem Umbruch, der Unsicherheit. Was würde die Zukunft bringen? Wie geht es jetzt weiter? Die letzten zwanzig Jahre waren ein Chaos. Freiheit haben wir nie gehabt, und ich bezweifle, dass wir sie haben werden. Ich war neulich in Ploieşti in einem riesigen Supermarkt. Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Sorten von Hundefutter es gibt – in sämtlichen Geschmacksrichtungen. Haben Sie die Hunde bei uns gesehen? Die haben bis jetzt auch gelebt. Ach, Sie kennen die Warenwelt besser als ich, Sie haben sich daran gewöhnt. Was sind Sie für ein Jahrgang?«
»1963.«
»Dann kennen Sie die Not nicht mehr. Für uns kommt der Wandel zu schnell. Wir sind zu spät dran. Zwanzig Sorten Kartoffelchips! Ist das die Freiheit, die ihr uns bringt? Wissen Sie, es gibt Menschen bei uns, die essen Hundefutter. Da stirbt man nicht dran. Es enthält sogar Mineralstoffe . . .« Professor Manoilescu schüttelte sich vor Lachen, was seine Fassungslosigkeit unterstrich. »Statt dass die
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