Grün wie ein Augustapfel
Steuerberater. Er hat sich für zehn Uhr angemeldet.«
Freytag verbeugte sich stumm und sah Viktoria nach, bis sie die Ladentür hinter sich schloß. Er ging zum Waschbecken und hielt seine feuchten Hände unter den kalten Strahl. Aus dem ungerahmten Spiegel starrte ihm sein Gesicht entgegen. Die Ansprache schien gewirkt zu haben. Nun, sie war auch gut vorbereitet gewesen. Am besten war die Sache mit dem Brief aus Nürnberg gelungen. Er hatte ihn vor drei Tagen scheinbar versehentlich zur Geschäftskorrespondenz gelegt.
Jetzt hieß es: abwarten!
6
Es war kurz nach zehn Uhr, als Manuela sich an den Frühstückstisch setzte. Der Kaffee stand unter der bunten Wärmehaube. Sie belegte sich ein halbes Brötchen mit rosigem Schinken und bestrich die andere Hälfte mit Butter und körnigem Honig und war gerade dabei, sich mit gesundem Appetit über ihr Frühstück herzumachen, als sie das Geräusch des Schlüssels in der Wohnungstür vernahm.
»Hallo, Vicky«, rief sie ihrer Mutter entgegen, »treibt dich der Hunger zurück? Komm, setz dich zu mir, der Kaffee langt für uns beide.« Sie blickte auf und stutzte: »Was ist mit dir los? Du siehst aus, als ob dir ein Gespenst begegnet wäre.«
»Nicht gerade ein Gespenst«, antwortete Viktoria und ließ sich in einen Sessel fallen, »es war nur ein kleiner Schreck in der Morgenstunde.«
»Was soll das heißen?« fragte Manuela und leckte den Honiglöffel genießerisch ab.
»Herr Freytag hat mir einen Heiratsantrag gemacht.«
Manuela setzte die halb erhobene Kaffeetasse auf den Teller zurück und starrte ihre Mutter an.
»Hat es dir die Sprache verschlagen?« fragte Viktoria nach einer kleinen Weile, als Manuela noch immer schwieg.
»Ja — und außerdem denke ich nach«, sagte Manuela und schob das Honigbrötchen zurück, als wäre ihr der Appetit vergangen. »Und was hast du ihm geantwortet?« fragte sie schließlich.
Viktoria griff zu Manuelas Kaffeetasse und stärkte sich mit einem Schluck: »Er sagte zwar, er stelle mir kein Ultimatum, aber im Endeffekt kam es doch darauf hinaus. Wenn ich seinen Antrag nicht annehme, hat er die Absicht, sich selbständig zu machen. Willst du mir sagen, mein Kind, wie ich das Geschäft weiterführen soll, wenn Freytag geht?«
»Das ist doch keine Antwort auf meine Frage«, stellte Manuela fest. »Einen Geschäftsführer kann man doch ersetzen, oder?«
»Dann suche du gefälligst einen Mann mit Freytags Erfahrung.«
»Heißt das, daß du dich entschlossen hast, dich für uns und für das Geschäft zu opfern?« fragte Manuela glitzernd.
»Komm mir nicht mit solchen Tönen, mein Herzchen«, sagte Viktoria mit einiger Schärfe.
»Entschuldige, Vicky, ich wollte dich wirklich nicht verletzen«, sagte Manuela. Sie vermied es, ihrer Mutter in die Augen zu sehen, aber in dem Blick, mit dem sie Viktoria betrachtete, lag ein Ausdruck des Erstaunens, als entdecke sie Dinge, die sie noch nie bemerkt hatte. »Du siehst eigentlich noch unglaublich jung aus, Vicky...«, murmelte sie schließlich zögernd.
»Du hast überraschende Einfälle, mein Kind. Was soll das?«
»Es war nur eine Feststellung«, antwortete Manuela. Sie stand auf und trat an das Fenster, auf dessen Sims ein paar Topfgewächse blühten, Zinerarien von einem metallischen Kobaltblau, Usambaraveilchen und zwei reich blühende, rote Amaryllisstöcke. Sie zupfte ein paar vertrocknete Blätter ab und legte sie auf die tönernen Untersätze.
»Ich weiß nicht recht«, fuhr sie fort, und es klang wie ein Selbstgespräch, »weshalb ich eigentlich gegen Herrn Freytag solch eine Abneigung empfinde. Sie bestand gar nicht einmal von Anfang an. Das mußt du doch zugeben, Vicky. Er war zu mir immer sehr nett. Und sein Äußeres ist wahrhaftig nicht übel. Vom Geschäft versteht er wirklich was. Und du hast ihn ja auch stets gegen mich verteidigt.«
Viktoria lauschte dem Monolog ihrer Tochter mit wachsendem Erstaunen und schrak leicht zusammen, als Manuela sich plötzlich so rasch umdrehte, daß der weitgeschnittene Rock emporschwang und zurückfiel, als sie die Bewegung abbremste.
»Ich glaube, Vicky, ich habe jahrelang vergessen oder ich habe es einfach nicht gesehen, wie jung du noch bist und wie gut du aussiehst. Du bist viel hübscher, als ich es jemals werden kann, wirklich! Sei mir nicht böse, du und Freytag... Das Bild will nicht recht in meinen Kopf hinein. Und wenn du dich etwa für uns und für das Geschäft opfern wolltest — das wäre unerträglich. Aber wenn du
Weitere Kostenlose Bücher