Grüne Magie
besinnst, ohne dabei irgendeinen Bezug auf das ›Falsche‹ zu nehmen!«
Und damit mußte sich Ern begnügen. Bevor die Pädagogen die Kammer verließen, warfen sie ihm noch einen kurzen Blick zu. Ern hörte, wie sie sich leise unterhielten, und er verstand einige Worte: »… verblüffende Absonderlichkeit…«
»… doch die beiden Schädelkämme…«
Im Refektorium trugen die Einer-Mädchen den Schülern Speisen auf, und verstohlen beobachtete Ern seine Gefährten. Sie waren zwar kaum kleiner als er, doch ihre Proportionen unterschieden sich von den seinen. Ihre Körperform hatte eine zylindrische Ausprägung gewonnen und wirkte nicht annähernd so kantig. Wenn er sich von den Zweiern unterschied, wer war er dann? Ein ›Grotesker‹? Und worum handelte es sich dabei eigentlich? Um einen maskulinen Zweier? Zu dieser Annahme neigte Ern, denn sie erklärte sein Interesse an den Einer-Mädchen. Er sah ihnen dabei zu, wie sie mit Tabletts hin und her eilten. Einer, ja – und doch übten sie einen unleugbaren Reiz auf ihn aus…
Nachdenklich kehrte Ern in seine Kammer zurück. Nach einer Weile kam eins der Einer-Mädchen vorbei, und Ern bestellte es zu sich und äußerte seine Wünsche. Die junge Frau wirkte überrascht und verwirrt, schien seinem Anliegen jedoch nicht abgeneigt zu sein. »Du müßtest eigentlich ein Neutrum sein. Was mögen die anderen denken?«
»Gar nichts – solange alles unter uns bleibt.«
»Ich verstehe. Aber ist so etwas denn möglich? Ich bin eine Einer, und du bist ein Zweier…«
»Ob es möglich ist, wird sich erst herausstellen, wenn wir es versucht haben. Das dürfte doch wohl klar sein, oder?«
»Nun, wie du meinst…«
Ein Mahner kam ins Zimmer und riß die Augen auf. »Was ist denn hier los?« Er sah genauer hin und taumelte entsetzt auf den Flur zurück. »Ein Grotesker, ein Grotesker! Direkt unter uns! Zu den Waffen! Tötet den Grotesken!«
Ern stieß das Mädchen von sich. »Kehr zu den anderen zurück und streite alles ab. Ich glaube, ich sollte jetzt besser verschwinden.« Er lief auf den Mittelweg und sah sich um. Die Hellenbardenträger waren bereits von dem Zwischenfall unterrichtet worden und rüsteten sich traditionell aus. Das dauerte natürlich seine Zeit, und Ern nutzte die Gelegenheit und floh aus dem Dorf. Die Zweier verfolgten ihn und riefen Flüche und rituelle Verwünschungen. Der meerrechte und zum Pfahlwald und Sumpf führende Weg war blockiert. Deshalb wandte sich Ern nach meerlinks, in Richtung der steilen Klippenwand. Er duckte sich unter Fächerpalmen und Wurmbäumen hinweg und fand schließlich ein Versteck hinter einer Ansammlung großer Pilze. Die Hellebardenträger stürmten vorbei, und dadurch bekam er einen kleinen Aufschub.
Ern richtete sich wieder auf und überlegte, wohin er jetzt gehen sollte. Ob er nun ein Grotesker war oder nicht: Die Zweier offenbarten eine unbegreifliche Feindseligkeit. Warum griffen sie ihn an? Er hatte doch versucht, sich ihnen anzupassen, einer von ihnen zu werden – ohne ihre Traditionen zu verletzen. Er nickte: Die Einer trugen die Schuld. Um die Zweier zu täuschen, hatten sie zwei lange Narben auf dem Kopf Erns entstehen lassen – und dafür konnte man ihn wohl kaum verantwortlich machen. Konfus und niedergeschlagen lenkte Ern seine Schritte der Küste entgegen. Dort konnte er wenigstens Nahrung finden. Als er ein Torfmoor überquerte, sahen ihn die Hellebardenträger und schrien sofort: »Der Groteske! Der Groteske!« Und wieder mußte Ern um sein Leben laufen, durch einen dichten Wald aus Zykadeen und Dendriten, auf den Klippenwall zu, der nun direkt vor ihnen in die Höhe ragte.
Eine massive Steinwand versperrte ihm den Weg, ein Bauwerk, das sehr alt sein mußte, denn es hatten sich bereits schwarze und braune Fladen aus Flechten darauf gebildet. Ern eilte an der Mauer entlang, und die Hellebardenträger folgten ihm nach wie vor und riefen noch immer: »Der Groteske! Der Groteske!«
Schließlich entdeckte er eine Lücke in der Wand. Ern schob sich hindurch und gelangte auf die andere Seite, wo er sich hinter einem Federbusch versteckte. Die Hellebardenträger blieben dicht vor dem Riß in der Mauer stehen, schwiegen und schienen nicht genau zu wissen, was sie jetzt unternehmen sollten.
Verzagt wartete Ern auf Entdeckung und Tod, denn der Busch konnte seine massige Gestalt kaum verbergen. Einer der Hellebardenträger wagte sich schließlich durch die Lücke, stöhnte überrascht und erschrocken und
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