GU Liebevolle Gebote fuer ein erfuelltes Leben
entstanden ist. Aus dem Bedürfnis, ihnen beizustehen, und zwar in einer Weise, dass die Menschen dabei ihre eigene Würde entdecken und behalten können. Almosen, egal in welcher Größenordnung, machen die Menschen zu Bettlern. In mir wuchs immer stärker die Einsicht, dass Würde der Schlüssel zum Herzen ist. Aber ihre Würde konnten die Armen nicht erlangen, indem wir Suppenküchen für sie bereitstellten. Als ich die Menschen näher kennenlernte, wurde mir klar: Die Mütter und Väter arbeiten so viel, dass sie gezwungen sind, auch ganz kleine Kinder tagsüber sich selbst zu überlassen. Und dann verdienen sie immer noch nicht genug, um die Kinder zu ernähren.
Hier ging es nicht um faule, undankbare Menschen, hier begegnete ich struktureller Ungerechtigkeit. Und die kann nur strukturell, also politisch, geändert werden. Allerdings: Eine Nonne, die in den Slums gegen Not und Elend karitativ tätig wird und sich aufopfert, die erklärt man zur Heiligen. Wenn dieselbe Nonne gegen die Ursachen von Not und Elend vorgeht, dann wird sie als Kommunistin verschrien und angeklagt. In der Zeit der Diktatur habe ich das besonders heftig zu spüren bekommen.
Aber ich hätte auch nie gedacht, dass uns die Liebe im Widerstand so kreativ machen würde: Wir waren tausendmal einfallsreicher als sämtliche Geheimdienste. Die Liebe weckte alle unsere Kräfte und unsere ganze Fantasie.
Bildung für alle
Ein Beispiel dafür, dass wir heute noch für Würde kämpfen, also weiter politisch arbeiten müssen, ist unser jahrzehntelanger Kampf um Schulen für die Kinder und Jugendlichen in den Armenvierteln. Dieser Kampf schmerzt mich besonders, denn heute werden die in Armut lebenden Kinder Chiles schon in der dritten Generation um ihre Bildung und damit um ihre Zukunft betrogen.
Gerade erst haben wir eine heftige Auseinandersetzung mit dem Arbeitsministerium ausgestanden. Es geht um unsere Berufsschulen, die einzigen, die es in Chile gibt. Hier werden zehn Handwerke unterrichtet, um Jugendlichen aus den Armenvierteln eine Ausbildung zu ermöglichen. Jedes Jahr müssen wir neu dafür kämpfen.
An Bedingungen wie etwa in Deutschland, wo Lehrlinge drei ganze Jahre lang ausgebildet werden, ist überhaupt nicht zu denken! Der Staat will uns maximal ein Semester gewähren. Ein Semester, um ein Handwerk zu lernen! Mit einem Jahr wäre ich schon zufrieden, so könnten wir es schaffen, die jungen Menschen zu ermutigen, ihnen zu einem weiteren Horizont zu verhelfen und ihnen schließlich einen Platz in der Gesellschaft und im Leben zu ermöglichen.
Wie gesagt, Jahr für Jahr stehen wir eine gigantische Anstrengung durch. Aber dieses Jahr verschlug mir ein zusätzliches, absolut perfides Problem regelrecht den Atem. Ende Februar klingelte das Telefon. Jemand aus dem Arbeitsministerium wollte mich sprechen. Die Nachricht, die ich erhielt, stürzte uns in ein fürchterliches Dilemma. Ich war darauf kein bisschen gefasst. Die Finanzierung unserer Berufsschulen sollte 2012 an eine Wirkungsstudie der Internationalen Bank für Entwicklung (BID) gebunden sein. Ich bekam die Anweisung, dass wir uns an der Studie beteiligen sollten – wir bekämen dann 1,5 Millionen Euro für unsere Berufsschüler –, andernfalls gebe es gar kein Geld.
Eine Studie wider die Menschlichkeit
Natürlich habe ich nichts gegen Studien, aber doch nicht so! Die Bedingungen sahen folgendermaßen aus: Das Arbeitsministerium wollte die Arbeit unserer Berufsschulen evaluieren lassen. Die Studie verpflichtete uns, die doppelte Anzahl der Schüler auszuwählen, von denen dann jedoch nur jeder Zweite aufgenommen werden durfte, während der andere Teil zur Kontrollgruppe der Studie gehören sollte und sein Leben weiter auf der Straße fristen musste.
Stellt euch Folgendes vor: Ein Schüler, der sich bei uns einschreibt, muss ein Zeugnis von der Stadtverwaltung bringen, dass er arm ist. Dann durchläuft er den Auswahlprozess, erfährt, dass er fähig und bereit ist, mit Erfolg die Schule zu absolvieren. Während dieser Zeit lernt er die Schule und ihre Möglichkeiten kennen, zum ersten Mal wächst Hoffnung in ihm, Hoffnung auf ein anderes Leben. Auf eine Zukunft. Und dann muss er hören: »Tut uns leid, du bist zwar ausgewählt worden und wähntest dich deinem Traum von einem besseren Leben schon so nah. Aber leider muss ich dich auf die Straße zurückschicken. Dein Bruder, der auch ausgewählt wurde und der die gleichen Voraussetzungen hat wie du, der darf bleiben. Auf
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