Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Gute Nacht, mein Geliebter

Titel: Gute Nacht, mein Geliebter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger Frimansson
Vom Netzwerk:
nützen, als wäre sie wieder ein kleines Mädchen, das man mit einem Musikinstrument trösten konnte.
    Das Mundstück des Horns an ihren Lippen, der Gesang des Horns.
    Sie drehte sich um, war in seinen Augen, seine Augen taten ihr weh. Sie wollte ihn an sich drücken und ausgelöscht werden. Sie war seine einzige Tochter, aber dennoch ein Grund zur Trauer.
     
    Allmählich stabilisierte sich ihr Zustand. Flora hatte viel Geduld. Wenn ihre Schwestern zu Besuch kamen, war es Floras große und endlose Geduld, von der sie sprachen.
    »Sie wird von dir weiß Gott so gut gepflegt, als wäre sie in einer Nervenheilanstalt«, sagte Viola, die nach Parfüm und Blumen duftete. »Es muss beruhigend für sie sein, dich zu haben. Und beruhigend für ihn.«
    »Sie kann ebenso gut hier sein wie in einem Krankenhaus, so wenig, wie man im Moment von ihr sieht. Und Sven fühlt sich wohler, wenn sie zu Hause ist, sein kleines Mädchen.«
    Die letzten Worte sagte sie mit einem spöttischen Unterton.
    Viola schlug die nylonbekleideten Beine übereinander und rief sie zu sich.
    »Was hältst du davon, wenn ich dich mit in die Stadt nehme, Justine? Wenn ich dir ein Kleid kaufe?«
    »Denkst du, wir hätten ihr nicht ganze Stapel von Kleidern gekauft! Ich kann dich nicht aufhalten, aber es ist vergebliche Liebesmüh. Sie zieht nichts Neues an. Sie trägt es einen Tag, dann zieht sie es wieder aus. Es ist unbequem und aufgesetzt, sagt sie. Aber es spielt auch weiter keine Rolle, ich meine, sie läuft ja doch nur hier im Haus herum.«
    »Du solltest nicht aufgeben, Flora. Kleider schaffen Grazie und Haltung. Das kann ein Weg sein, sie wieder normal werden zu lassen.«
    Flora senkte ihre Stimme.
    »Normal! Dieses Mädchen ist nie ganz normal gewesen. Das hat etwas mit Genetik zu tun, sie hat es von ihrer Mutter geerbt. Sie war auch, wie soll ich sagen, ein wenig neben der Kappe, um es vorsichtig auszudrücken. Im Moment versuche ich, Justine grundlegende Kenntnisse in Haushaltsführung beizubringen. Das ist nie verkehrt. Und wenn Sven und ich einmal alt werden, kann sie sich vielleicht um uns und das Haus kümmern. Auf diese Weise ist sie doch wenigstens was wert, sowohl für sich selbst als auch für uns. Ein Mensch muss das Gefühl haben, etwas wert zu sein, das ist so ziemlich das Wichtigste im Leben.«
    Ihre Schwestern hatten nie verstehen können, warum Flora für Haushalt und Garten niemand einstellte. So reich verheiratet und trotzdem keine Hilfe von außen.
    »Du könntest dort wie eine Herzogin thronen und dich bedienen lassen. Einen Wert hast du doch trotzdem, du bist immerhin die Ehefrau des bekannten Sven Dalvik, das allein reicht doch schon.«
    Flora hatte merkwürdige Argumente.
    »Ich will keine Fremden in meinem Haus. Das hier ist mein Revier.«
     
    Es wurde auch Justines Revier. Schritt für Schritt steckte sie es für sich ab, ohne dass Flora etwas davon merkte. Bekleidet mit dem alten Overall ihres Vaters scheuerte sie die Wände und Fußböden des Hauses. Im Frühling und im Herbst, Jahr für Jahr.
    Im Wasser waren Spritzer ihres Bluts, sie schnitt sich in den Finger.

2. KAPITEL
    Als ihr Vater starb, hatte sie sich gerade den Speicher vorgenommen. Sie fing immer ganz oben an und arbeitete sich dann stetig nach unten vor. Sie lag auf den Knien und scheuerte, die Bodendielen schnitten in ihre Knie, und der Schmerz tat ihr gut. Das rohe Holz, der Duft aufgerauter Kiefern.
    Dann: von weit unten ein kalter Lufthauch. Sie hörte Flora rufen.
    Ihr Vater war auf der Außentreppe zusammengebrochen. Er hatte einen Schuh verloren. Mechanisch ging sie in die Hocke und zog ihm auch noch den anderen aus. Ihre Hände waren nass vom Putzwasser.
    Gemeinsam gelang es ihnen, ihn in das blaue Zimmer zu tragen. Flora schleppte sich die Treppen auf und ab, sie rauchte und zog sich um.
    »Du musst dich auch umziehen, wenn du mitkommen willst, in dem Overall kannst du nicht gehen.«
    Sie saß da, den Kopf ihres Vaters im Schoß. Er fühlte sich so hart und klein an.
     
    Es war nur für eine von ihnen Platz im Krankenwagen.
    Justine nahm das Auto. Sie hatte zu ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag einen Opel geschenkt bekommen. Sie hielt sich dicht hinter dem Krankenwagen, der mit heulenden Sirenen davonfuhr.
    Wie sie bereits geahnt hatte, war nichts mehr zu machen. Ein übernächtigter Arzt empfing sie in einem Zimmer. Sie erinnerte sich an ein Pflaster an seinem Hals. Sie saß vor ihm und fragte sich, was er getan hatte. Sich geschnitten? Oder

Weitere Kostenlose Bücher