Gwydion 04 - Merlins Vermächtnis
stand.
Muriel sah Gwyn belustigt an. „Seit wann hat man dich in den Adelsstand erhoben?“
„Gwydion ist schon immer ein König gewesen, nur dass er es bis vor Kurzem selber nicht gewusst hat.“
„König? Du?“ Muriel wollte lachen, doch sie beherrschte sich, als sie Lancelots ernsten Blick bemerkte. „Ist das wahr, Gwyn?“
Er nickte beinahe entschuldigend. „Mein Name ist Gwydion Desert. Ich bin der Herr von Dinas Emrys und somit der letzte König in einer langen Reihe von Gralshütern.“
„Gralshütern?“, fragte Muriel verwirrt.
„Man nennt sie auch Fischerkönige“, erklärte Rowan. „Ihre Aufgabe ist es, den Kelch des letzten Abendmahls…“
„Auch wenn ich nur ein einfaches Bauernmädchen bin, kenne ich die Sagen und Legenden unseres Landes“, schnitt ihm Muriel ärgerlich das Wort ab.
Rowan hob entschuldigend die Hände. „Verzeihung, ich wollte nicht unhöflich sein.“
Doch Muriel achtete nicht auf ihn. Zu sehr verwirrte sie das Geheimnis, das Gwyn gerade enthüllt hatte. Sie starrte auf das Einhorn, das seinen Waffenrock zierte.
„Du bist wirklich und wahrhaftig ein König“, flüsterte sie schließlich. „Mächtiger als alle Menschen, die jemals auf Erden geherrscht haben.“
„Muriel, rede keine Unsinn“, entfuhr es Gwyn. „Mein Titel ist ohne jede Bedeutung. Ich bin ein Gralshüter ohne Gral! Und nach dem Diebstahl meines Medaillons werde ich ihn wahrscheinlich nie in Händen halten.“
„Die Spur des Medaillons führt nach Londinium“, sagte Katlyn. „Und da die Reise über Land in diesen Tagen zu gefährlich ist, haben wir uns dazu entschlossen, die Stadt an der Thamesis über den Seeweg zu erreichen.“
„Aber ihr wisst nicht, was euch in Londinium erwartet.“
„Nein“, gab Katlyn zu. „Ich habe diese Stadt vor über zehn Jahren verlassen und bin seither nicht wieder dort gewesen.“
Wenn Muriel bei diesen Worten Angst befiel, so zeigte sie es nicht. „Wenn uns das Schicksal zusammengeführt hat, damit wir diesen Weg gemeinsam gehen, dann wollen wir nicht zögern. Erlaubt mir also, dass ich mich euch anschließe.“
„Hör doch auf, so feierlich zu reden“, brummte Gwyn. „Glaubst du im Ernst, ich habe dich vor Mordreds Männern gerettet, um dich dann an dieser Küste auszusetzen?“
Muriel ging auf Gwyn zu, ergriff seine Hände und schaute ihm lange in die Augen. „Mein kleiner Bruder“, sagte sie und schüttelte nur den Kopf. „Mein kleiner, großer Bruder.“ Dann umarmte sie ihn so heftig, dass Gwyn die Luft wegblieb.
„Lasst uns Weiterreisen“, sagte Lancelot schließlich und begann die Sachen zusammenzupacken. „Wir haben noch nicht einmal die Hälfte des Weges zurückgelegt und wir wissen nicht, welche Gefahren vor uns liegen.“
Die Spuren römischer Ansiedlungen häuften sich, je weiter sie nach Osten segelten. Im Abstand von mehreren Meilen hatten die Römer Wachtürme errichtet, deren Ruinen sich wie Relikte einer längst vergangenen Epoche in den Himmel reckten.
Gwyn versuchte sich vorzustellen, wie es damals gewesen sein mochte, als die Römer dem Land bis hinauf nach Kaledonien ihre Ordnung aufgezwungen hatten. Katlyn hatte Gwyn einiges über diese Zeit erzählt. Ihre Vorfahren hatten über Generationen im Dienst der Eroberer gestanden und dem eigenen Bekunden nach nicht schlecht dabei gelebt. Aber dann waren die Pikten und die Jüten, die Angeln und die Sachsen gekommen – und alles hatte sich geändert, nicht nur für die Römer, sondern auch für die Kelten, die Britannien seit Urzeiten bevölkerten. Hunger oder die blanke Eroberungslust trieb die fremden Stämme von der Ostküste wie eine Sturmfront nach Süden und Westen. Schließlich zogen die Römer ihre Truppen ab und überließen die Bewohner der Insel einfach ihrem Schicksal. Binnen kürzester Zeit löste sich jede Ordnung auf. Gesetze verloren ihre Gültigkeit, die Versorgung der Städte brach zusammen. Lokale Häuptlinge erklärten sich zu Königen über Reiche, die nicht größer waren als Dörfer. Erbarmungslose Eroberungskriege brachen aus.
Dieser Rückfall ins Chaos musste die Stunde gewesen sein, auf die die alten Druiden schon lange gewartet hatten. In den Zeiten vor der römischen Invasion waren sie die uneingeschränkten Herrscher gewesen und hofften nun, es nach vierhundert Jahren wieder zu werden. Gwyn war sich mittlerweile sicher, dass Merlin schon zu Vortigerns Zeiten erkannt hatte, dass nur jene, die wie er noch das alte Wissen der Altvorderen
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