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Hab und Gier (German Edition)

Hab und Gier (German Edition)

Titel: Hab und Gier (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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»dass das sogenannte Ohnmachtsspiel unter Jugendlichen weit verbreitet ist. Wolfgang hat mit Bernadette wohl Ähnliches erlebt.«
    »Erlebt, mag sein. Aber das will er ja nun nicht mehr.«
    »Bei derlei Spielchen sind schon viel Jüngere über den Jordan gegangen«, meinte sie noch.
    »Was du nicht alles weißt«, staunte ich. »Warum bist du eigentlich Bibliothekarin geworden? Bei der Kripo hätten sie dich gut brauchen können. Im Fernsehen haben die Polizistinnen auch immer einen blonden Zopf.«
    »Das hatte ich nach dem Abi auch vor, aber wegen einer kleinen Vorstrafe ging das leider nicht. Also habe ich mich aufs Lesen von Krimis spezialisiert und viel daraus gelernt.«
    Schließlich standen wir vor Wolframs Haus, Judith platzte fast vor Neugier. Aufgeregt tuschelte sie mir zu: »Eigentlich schade, das Dornröschenschloss zu verscherbeln…«
    »Davon bin ich längst abgekommen«, brummte ich und kramte den Hausschlüssel heraus. »Hättest du Lust, mit mir zusammen hier zu wohnen?«
    »Klar, wir ziehen das Ding ja auch gemeinsam durch«, sagte sie, und wir traten ein.
    Wolfram war auf dem Sofa eingenickt, während der Fernseher lief. Ich drehte den Ton ab, und sofort schreckte er auf. Eine Sekunde lang starrte er uns verständnislos an, dann lächelte er.
    »Damenbesuch«, sagte er. »Welche Freude!«
    Gleich nachdem wir ihm die Hand gegeben und uns nach seinem Befinden erkundigt hatten, fragte Judith, wo der Staubsauger sei. Sie sei die Frau für das Grobe. Offensichtlich war die portugiesische Haushaltshilfe nicht wiederaufgetaucht. Wolfram und ich gingen unterdessen in die Küche.
    »Was möchtest du heute essen?«, fragte ich und schaute ins Kühlfach. »Wir haben noch Paella, Farfalle in Käsesauce oder Flammkuchen. Montag gehe ich wieder einkaufen.«
    »Eigentlich reicht mir eine kleine Portion Eis, ich kann so schlecht schlucken. Aber meinetwegen könntest du den Flammkuchen aufbacken, und wir essen ihn gemeinsam«, sagte Wolfram. »Bernadette sieht heute wunderschön aus, doch sie braucht wirklich nicht zu putzen.«
    »Es ist nicht Bernadette, sondern Judith«, verbesserte ich ihn. »Du wirst sie kaum davon abbringen, sie fährt nie mit angezogener Handbremse.«
    In diesem Augenblick kam die tatkräftige Judith herein und hielt Wolfram einen zerknüllten Zettel unter die Nase. »Lag unterm Couchtisch. Ist das von dir?«, fragte sie.
    Er lächelte mit einem Kopfschütteln. Das seien ein paar Zeilen aus einem Gedicht von Friederike Kempner, die Anfang des letzten Jahrhunderts gestorben sei. Er habe es sich notiert, weil es so komisch sei; auch sei er um einige Ecken mit der Dichterin verwandt. Judith las vor:
    »Mast und Segel schwimmen auf dem Meere,
    Wer schafft dieses Ungewitters Sturm?
    Und die Schlange in den schwarzen Wolken,
    Und den kleinen roten Totenwurm?«
    Judith und ich tauschten Blicke. Schließlich meinte sie: »Ich muss jetzt weitersaugen«, und verschwand.
    Eine Weile war es fast still in der Küche, man hörte nur das Brummen des Staubsaugers im Nebenzimmer und das Summen des Kühlschranks. Ich wischte den Tisch ab, stellte den Backofen an und fragte beiläufig: »Diese Friederike Kempner stammte – wenn ich mich richtig erinnere – aus Schlesien. Ist das die Heimat deiner Vorfahren? Ich weiß wenig über deine Kindheit, eigentlich nur, dass deine Familie aus dem Osten geflüchtet ist.«
    »Mein Vater ist noch vor meiner Geburt gefallen, meine Mutter ist kurz vor Kriegsende in einem Viehwaggon in den Westen gelangt. Ich war noch ein Baby und kann mich nicht daran erinnern. Aber sie hat mir erzählt, dass ich unterernährt und kaum lebensfähig war, auch in meiner Kindheit und Jugend war ich häufig krank. Meiner Mutter verdanke ich, dass ich damals nicht gestorben bin.«
    »Sie war sicherlich eine starke Frau…«
    »Nun, in der Kriegs- und Nachkriegszeit mussten alle Frauen ihren Mann stehen. So mancher zarten Dame hätte es niemand zugetraut, dass sie schuftete wie ein Pferd, um ihre Familie zu ernähren. Meine Mama war sehr liebevoll, aber wenn es darauf ankam, konnte sie zur Furie werden. Als sie starb, war ich gerade erst mit der Schule fertig. Ohne sie wollte ich nicht weiterleben, so hart hat es mich getroffen. Erst viel später konnte ich mich wieder geborgen fühlen, das war zu Beginn meiner Ehe.«
    »Hat deine Mutter nicht wieder geheiratet?«, fragte ich.
    Nein, und deswegen sei Wolfram ihr Ein und Alles geblieben.
    Ja, ja, es lebe die Küchenpsychologie!, dachte ich, so

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