Haben Sie das von Georgia gehoert
Behindertenrente und Sozialhilfe für 1 Pers., und es dauert Monate, die neuen Papiere zu kriegen. Sie waren so nett, Ree ein paar $ zu senden, aber jetzt ist es sehr schwer. Können Sie bitte noch mehr schicken, an meinen Namen und dieselbe Adresse bei W. Union, und ich hole es ab. Sie sollten den Jungen sehen – groß & stark, aber was der isst! Bitte lassen Sie mich wissen, was Sie können. Oder wenn Sie keine $ schicken können, sagen Sie es mir, und ich schicke Ihnen den Jungen mit dem Bus oder Zug. Ich möchte Ihnen nicht lästig fallen, aber ich bin alt und kann das nicht allein und hab fast keine Hilfe von irgendwem. Bitte rufen Sie mich an 586-0645.
Ihre ergebene Mrs. Eugenia Jordan.
Als Georgia den Brief zu Ende gelesen hatte, zitterten ihre Hände. Zu ihrer Verabredung mit Ree gehörte, dass die Kommunikation einseitig blieb. Dafür hatte sie bezahlt, Monat für Monat, all die Jahre hindurch – dass man sie aus dem Spiel ließ. Am vierten Samstag jedes Monats ging sie zur Western Union und überwies telegraphisch so viel, wie sie sich leisten konnte. Dafür unterblieb jeglicher Kontakt. Das war die Abmachung.
Dieser Brief kam aus einer neuen Richtung. Georgia fühlte sich bedroht.
Der Junge durfte nicht nach Six Points kommen. Sein Daddy saß im Gefängnis, und seine Großtante Ree jetzt
auch. Die Briefschreiberin dürfte die Urgroßmutter des Jungen sein, Eugenia, die inzwischen mindestens achtzig war – die Ärmste: Musste sich um einem großen, hungrigen Jungen kümmern …
Aber der »Junge« war fast zwanzig, oder? Längst alt genug, um selbst ein paar »$« ins Haus zu bringen. Warum tat er es nicht? Georgia hätte ihn innerhalb von fünf Minuten auf Jobsuche geschickt, wenn er bei ihr gewesen wäre. Aber er würde nicht zu ihr kommen. Er würde bleiben, wo er hingehörte, bei Eugenia Jordan in New Orleans.
Nathan.
Sie ließ seinen Namen nicht oft in ihre Gedanken.
Sie wollte nur Geld schicken und ihn vergessen. Jetzt, da er erwachsen wurde, hatte sie gedacht, sollte er doch selbst für sich sorgen können. Dann könnte sie die Beträge verringern. Natürlich würde sie zum Geburtstag und zu Weihnachten weiterhin etwas schicken, aber irgendwann kam doch für jeden die Zeit, da er seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten musste. Und jetzt dieser Brief …
Manche Schulden hat man eben nie abbezahlt.
Georgia las den Brief drei Mal. Nach und nach erschien er weniger bedrohlich und eher wie eine flehentliche Bitte. Sie schrieb Eugenias Telefonnummer ab, steckte den Zettel in die Tasche und brachte den Brief in ihr Zimmer.
Aus der hinteren Ecke ihrer BH-Schublade holte sie eine mit grünem Filz ausgeschlagene Schatulle hervor.
Ihr Highschool-Tagebuch war das übliche, quadratische braune Buch mit einer Lederschlaufe und einem kleinen Messingschloss, das schon seit einer Ewigkeit kaputt war. Zwischen den vorderen Seiten klemmte ein Brief, den sie sich mit achtzehn Jahren selbst geschrieben hatte – auf einem
separaten Blatt, weil es zu gefährlich gewesen war, ihn dem Tagebuch anzuvertrauen. Nach all den Jahren stieg noch immer ein Hauch von Giorgio-Parfüm aus dem Buch.
Liebes Tagebuch,
heute gab’s was Irres. War heute beim Cheerleader- Training, wir haben die zweiseitige Pyramide gemacht, und zum ersten Mal ist niemand runtergefallen. Ich war ganz oben rechts. Nach dem Training war ich SO fertig, dass ich mich auf die Tribüne setzen musste, um wieder Luft zu kriegen. Die Sonne sah aus wie ein dicker roter Ball, der im Himmel schwamm. Ich musste dauernd hinschauen. Dann hörte ich etwas, das klang wie ein Baby, das weinte, und ich ging hinter die Tribüne und unten rein, wo alle ihre Flaschen & so Zeug hinwerfen.
Im Unkraut lag ein kleines Kätzchen, schwarz und weiß gefleckt, ungefähr eine Woche alt, vielleicht auch zwei oder drei. Es war ganz klein und schrie, und seine Mama war weggelaufen oder unters Auto gekommen. Es hatte Angst, und ich hab versucht, es zu beruhigen, und nach einerWeile hört es auf zu schreien. Ganz weich, wie Mohair. Ich holte sie hinten aus der Tribüne raus, und da kam dieser Junge an, Clarence Blanchard, aber alle nennen ihn Skiff. Er kam nicht angeschlichen, aber irgendwie ruhig und leise, und fragt: »Was hast du denn da?« Ich zeig’s ihm, und er sagt nicht wie andere Jungs: »Ach, ’ne blöde Katze« oder so was, er nimmt das Kätzchen ganz sanft in die Hand und streichelt seinen Kopf wie ein Baby. Ich wollte ihren Rücken streicheln &
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