Haertetest
ich gar nicht wollte. Eine ganz leichte Furcht schlich sich in meinen Bauch. Ich glaubte nicht, dass ich das jetzt hören wollte.
»Du vermisst jemanden«, sagte Marie. Was meinte sie damit? Doch nicht Lillys Baby? Woher konnte sie das wissen?
»Es ist ein kleines Mädchen.«
Ich erschrak. Was machte Marie mit uns? Ging das nicht zu weit? Ich sah Lilly an. Sie hatte Tränen in den Augen. Ich nahm ihre Hand und drückte sie fest. Wir konnten jederzeit gehen! Niemand konnte sie zwingen, sich damit auseinanderzusetzen!
Lilly lief eine Träne über die Wange.
»Du darfst um deine Tochter weinen. Du musst es sogar tun! Und hab keine Angst, darüber zu sprechen. Es geht ihr gut, dort, wo sie ist.«
Lilly fing hemmungslos an zu schluchzen, und ich nahm sie in den Arm, strich ihr über den Kopf und verdrückte auch ein paar Tränchen.
Wenn Marie jetzt sagte: »Deine Tochter ist übrigens hier, ich soll dich schön grüßen!«, würde ich diese Veranstaltung verlassen, das schwor ich. Herumwandernde Seelen durfte es ja geben, prima, meinetwegen, es gab ja auch zum Beispiel … Wolken! Obwohl man sie nicht anfassen konnte, waren sie da, aber sie sahen nur von Weitem hübsch aus. Befand man sich im Nebel, sah man nicht mehr viel, und es war nass und kalt. Also nicht meine Welt. Genauso verhielt es sich mit Geistern.
Marie lächelte mich an. »Du bist wirklich ein Schisser!«, grinste sie. Waaas? Iiich? Nur weil ich nicht wollte, dass die verstorbenen Seelen hier auftauchten? Dass Marie meine Gedanken lesen konnte, war inzwischen völlig klar. Ich schnaubte nur: »Also wirklich!«
Lilly lachte unter Tränen. »Hey, sei doch mal offen für Neues!« und zwinkerte mir zu. »Oje, aber das ist ja echt schrecklich«, stöhnte sie. »Ich wusste gar nicht, dass ich deswegen noch so traurig bin!« Wieder weinte sie, ich hielt sie. Marie sah uns zu.
Ich fand es nicht mehr komisch oder doof. Meine Freundin hatte ihr Baby verloren, und zwar bevor ich sie kennenlernte. Jetzt konnte ich sie trösten, und sie ließ es zu. Warum lief sie nicht schreiend davon? Ich weiß nicht, ob ich ihre Stärke gehabt hätte. Ich litt mit ihr, mit meiner Freundin, meiner Seelenverwandten, meiner liebsten erwachsenen Person auf der Welt nach meinem Mann.
Marie sprach leise: »Es ist gut so, wie es ist. Wir sehen den Grund nicht. Aber alles hilft uns, zu lernen und zu wachsen. Weißt du, dein erstes Mädchen, das es nicht auf die Welt geschafft hat, wird auf seine Geschwister hier aufpassen. Es wird ein Schutzengel sein!«
Aaaaaha. Okay. So, und jetzt gehen wir und rufen in der Psychiatrie an. Die Frau war ja echt durchgeknallt. Ich atmete einmal tief durch. Lilly hörte auf zu weinen, löste sich von mir, wischte sich die Tränen ab und schubste mich leicht an. Das hieß wohl so viel wie »Alles okay, du kannst mich jetzt loslassen«. Meine Güte! In meinem Bauch rumorte es. Und ich spürte meine Müdigkeit von heute Morgen wieder sehr deutlich.
Aber ich hatte auch ein anderes, ein gutes Gefühl. Ich fühlte mich frei und zuversichtlich. Jonas liebte mich, das zu wissen war schon mal gut. Und ich liebte ihn, und wir würden das wieder hinkriegen. Ich musste trotzdem noch herausfinden, ob er mit Jessica geschlafen hatte. Das wollte ich nämlich nicht. Es hätte mich wirklich sehr verletzt. Das sollte er gefälligst nur mit mir!
Lilly nahm sich ein Taschentuch aus der bereitgestellten Box und schnäuzte sich laut. Die unbeschreibliche Stimmung von eben, als ich dachte, die Seele von Lillys Kind würde uns hier besuchen, verflog. Alles wurde irgendwie wieder scharf und real, schön normal, so wie es sich gehörte. Aber das schöne Gefühl und die schwere Müdigkeit blieben.
Marie räumte die Karten wieder ein, stand auf, schaltete das Licht ein und pustete die Kerzen aus. Die Sitzung war jetzt offensichtlich ganz offiziell beendet.
»Wollt ihr eine Quittung? Ihr könnt bar oder mit Karte zahlen.«
Marie lachte. Na, das war ja ein schneller Übergang in die reale Welt. Über totes Kind gesprochen, geweint, Bargeld lacht, Firma dankt, Wiedersehen.
»Ich lasse euch einen Moment alleine, damit ihr eure Gedanken ordnen könnt, okay?«
Äh, ja, okay. Marie schwebte aus dem Raum und ließ die Tür zum Flur ein bisschen offen. Dann klapperte sie in ihrer Küche herum. Jetzt räumte sie doch nicht allen Ernstes ihren Geschirrspüler ein?
Schweigend und immer noch überwältigt, schnauften Lilly und ich noch ein paar Mal
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