Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
sie keine Lust, sie wieder anzumachen. Die Dunkelheit konnte kommen.
Die Nacht war schlaflos und lang. Sie nickte immer wieder ein, aber als das Morgenlicht durch die Fenster des Treppenhauses schien, hatte sie Kopfschmerzen vor Schlafmangel. Der Körper war steif gefroren, sie stöhnte, als sie versuchte, sich aufzusetzen. Ihr Mund war trocken, die Zunge rau wie Schmirgelpapier. In der Limoflasche waren nur noch ein paar Tropfen, sie trank sie, ohne dass der Durst gelöscht wurde, im Gegenteil, jetzt war er nur noch verzweifelter. Außerdem musste sie so dringend pinkeln, dass jeder Schritt stach wie mit Nadeln. Sie sammelte schnell ihre wenigen Besitztümer zusammen, zog die Steppjacke an und verließ das Treppenhaus. Im Hof setzte sie sich hinter ein paar Büsche, der kräftige Strahl verwandelte den Schnee in eine gelbe Pfütze.
Sie musste einen anderen Laden zum Klauen nehmen, ihre eigenartigen Kaugummikäufe wirkten sonst verdächtig. Sie ging Richtung Stadt und in einen Konsumladen. So früh am Morgen waren hier noch nicht viele Kunden, eine Tüte Brot verschwand ohne Probleme in der Jacke. Eine Tube Krabbenkäse und eine Milch steckte sie in den Rucksack. Die Verkäuferinnen schienen noch nicht richtig wach zu sein, eine müde Kassiererin wartete an der Kasse. Julia reichte ihr lächelnd ein Erdbeeerbonbon für eine Krone und verließ den Laden. Die gleiche Munterkeit wie gestern, das Gefühl von Macht und Kontrolle. Vielleicht würde sie sich in Zukunft so versorgen – als Vollzeitdiebin? Zu einer richtigen Verbrecherin avancieren, Diamanten stehlen, Banken ausrauben?
Die Geschäfte hatten noch nicht geöffnet, es war erst halb zehn, dennoch lief sie die Hauptstraße auf und ab, etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Nur wenige Menschen waren unterwegs, viele hatten vielleicht noch Weihnachtsferien. Ein Rentner kam mit einer Stofftasche, auf der das Logo der Stadtbibliothek aufgedruckt war. Sie schaute sie an, und auf einmal fiel ihr ein, dass die Bibliothek von zehn bis sechs geöffnet hatte. Dass sie bisher nicht daran gedacht hatte! Vielleicht gab es doch einen Gott, der ihr wohlgesinnt war?
Sie folgte dem Rentner in die Bibliothek und ging direkt zur Toilette, wo sie noch einmal pinkelte. Dann wusch sie sich Gesicht und Hände und tat danach so, als wüsste sie genau, wohin sie wollte. In der hintersten Ecke gab es eine Sitzgruppe mit Tisch und Stühlen, hinter den Regalen mit der Kunstliteratur. Da setzte sie sich hin und richtete sich für den Tag ein.
Emma konnte aus ihrem Zimmer Annikas leise Stimme hören, die in der Küche telefonierte. Den ganzen Tag schon hatte sie mit allen möglichen Leuten und Behörden gesprochen. Emma hatte auf dem Bett gelegen und zugehört, wenn sie nicht eingeschlafen war. Sie hatte immer noch den Schlafanzug an, war nur zum Frühstücken aufgestanden. Seit sie wieder allein waren, hatte die große Müdigkeit sie gepackt. Jedes Körperteil und jeder Muskel waren erschöpft.
»Das ist die Anspannung. Es ist kein Wunder, dass du so kaputt bist, das waren drei sehr anstrengende Wochen«, sagte Annika, als sie in einer Pause zwischen den Gesprächen zu ihr kam und sich aufs Bett setzte.
»Bist du nicht müde?«
Sie schaute forschend auf Annikas dunkle Ringe unter den Augen.
»Ich muss noch ein paar Sachen erledigen, dann kann ich ohnmächtig werden!«
Sie lachte, stand auf und ging wieder in die Küche. Emma wusste, dass sie versuchte, dafür zu sorgen, dass Julia Carl nicht mehr treffen musste. Vielleicht würde es gelingen. Sie wollte es so gern glauben.
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, ihr wurde ganz schwindelig. Wo war Julia im Moment? Was machte sie? Hatte sie etwas zu essen? Und vor allem, wo schlief sie?
Sie wünschte, sie hätte bei ihr sein können, verstand jedoch, dass es nicht ging. Das hier musste Julia allein schaffen.
Sie schloss die Augen und spürte, wie die schwere Müdigkeit sie hinabzog, dahin, wo es still und ruhig war.
Aus der Küche hörte sie Annikas gedrosselten Zorn, wenn sie wiederholte, was ihr Gesprächspartner sagte.
»Würdest du mit dem Täter zusammenwohnen wollen? Würdest du das wollen? Würdest du mit dem Täter zusammenwohnen wollen?«
Und dann das Schweigen, wenn die Person am anderen Ende auf diese rhetorische Frage antwortete.
»Nein, das hätte ich mir denken können. Und Julia geht es ganz genauso. Deswegen ist sie abgehauen, und wenn wir wollen, dass sie zurückkommt und wieder normal leben kann, dann musst du deine
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