Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
auf ihrem Gesicht widerspiegelt.
»Vergeblich!«, flüstert ihre Säuselstimme und macht eine Pause. »Alle tot! Herr Seibel und Herr Richter haben mitgeholfen, sie aus dem Wrack rauszuziehen.«
Sie stützt die Ellenbogen auf den Holztresen, schlägt die Hände vors Gesicht und Swensen sieht am Zucken ihres Halses, dass sie schluchzt.
»Gestern Morgen waren die noch quicklebendig. Und dann haben wir hier so ein elendes Scheißwetter, dass die Blinkanlage einschneit! Das ist doch so was von aberwitzig.«
Swensen legt der Kollegin vorsichtig die Hand auf die Schulter, doch die dreht sich zur Seite, so dass er die Hand wieder zurückzieht.
»Das ist doch total sinnlos das Ganze!«
Susan Biehls Satz legt sich wie eine Last auf Swensens Schulter. Er sucht nach Worten, die nicht als Platitüde daherkommen.
»Leid ist einfach etwas unvermeidliches, Susan«, spricht seine betont gelassene Stimme, während er am liebsten im Erdboden versinken möchte. »Es gehört einfach zum Leben dazu.«
»Aber das hier sind doch keine von den Toten, mit denen Sie ständig zu tun haben. Das sind unschuldige Jugendliche, die ihr Leben noch vor sich hatten! So was ist doch nur ungerecht.«
»Unschuld und Schuld sind ein weiter Begriff, Susan. Sie sollten nicht Todesursachen miteinander vergleichen. Unfallopfer sind nicht automatisch die besseren Toten. Die meisten Toten, die ich habe, werden fast immer aus Habgier ermordet, sind also mindestens genauso unschuldig. Es ist ein hartnäckiges Vorurteil, dass Ermordete ihre Mörder unbewusst zur Tat provozieren. Ich finde Mitgefühl gilt für alle, sollte bedingungslos sein, keine Unterschiede machen, einfach …« Er stockt. Geht’s nicht etwas weniger pathetisch, alter Buddhist!
»Ich bin schon vor drei Jahren aus der Kirche ausgetreten«, kontert Susan Biehl trotzig.
»Ich schon vor dreißig Jahren«, antwortet Swensen, findet ihre Reaktion aber trotzdem angebracht. Das war mal wieder etwas zu heftig, Jan Swensen! Er will sich gerade abwenden, als sein Blick auf eine gefaltete Zeitung fällt, die hinter dem Tresen neben Susan liegt. Da prangt der obere Teil eines Fotos, das den ermordeten Rüdiger Poth zeigt. Darüber reihen sich riesige Buchstaben:
WIEDER MORD IN HUSUM! Eine Stadt in Angst! Geht es um den Storm-Roman?
»Was ist denn das?« stöhnt Swensen auf und starrt fassungslos auf die offenen Augen, die ihn aus grobem Zeitungsraster anblicken. Susan Biehl blickt erstaunt auf Swensen, der mit einer blitzschnellen Handbewegung die Zeitung an sich reißt und aufklappt. Das Foto füllt fast die ganze Seite. Da sitzt Rüdiger Poth blutüberströmt im Sessel.
Meyer, schießt es Swensen durch den Kopf. Das war garantiert Meyer, dieser elende … – alle Menschen sind Teil von allem – Reporter des Teufels!
»Man sollte das gesamte Pack in einen Sack stecken und mit dem Knüppel draufhauen!«
Swensen hebt den Kopf, als gerade die Gruppe Streifenpolizisten an ihm vorbeigeht.
»Genau, da trifft man immer den Richtigen!«, ergänzt ein Beamter, bleibt stehen und tritt neben Swensen.
»Ich finde diese Zeitungsschreiberlinge langsam unerträglich«, sagt er bedeutungsvoll und zeigt mit dem Finger auf das Zeitungsfoto. Swensen sieht ihn über den Zeitungsrand verwundert an, sagt aber nichts.
»Es muss hier zur Zeit irgendwo ein Nest geben«, plappert der junge Streifenbeamte unbeeindruckt drauflos. »Die haben uns heute Nacht doch glatt am Unfallort mit drei Kamerateams überfallen. Irgendwelche Heinis von RTL, SAT 1 oder so. Während das Technische Hilfswerk die Insassen mit dem Schneidbrenner rausgeschnitten hat, stiefelten die mittenmang und stellten sich mit Aufsagern vor ihren Kameras in Pose.«
»Und was habt ihr gemacht?«
»Nichts! Dazu hatten wir gar keine Luft. Die Unfallstelle musste gesichert werden. Richter und Seibel haben dann die Männer rausgezogen. Kein schöner Anblick! Alles voller Blut. Mir war ganz schön mulmig.«
»Ich würde solche Eindrücke nicht auf die leichte Schulter nehmen. So was kann ganz schön lange hängen bleiben.«
»Wie meinen Sie das?«
»In der Psyche. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Wenn das in den nächsten Tagen nicht nachlässt, hol dir lieber professionelle Hilfe beim Psychologen.«
»Ich bin doch nicht verrückt!«
»Das sagt niemand!«
»Außerdem, so schlimm war das nun auch wieder nicht.«
»Damit ist nicht zu spaßen, ehrlich. Übrigens, woher wusste die Presse eigentlich Bescheid?«
»Weiß der Geier, wie die das
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