Hahn, Nikola
Einen Moment war sie versucht, mit dem nächsten
Zug zurückzufahren . Vielleicht
war ja die Gehilfenstelle beim Stadtpolizeiamt in Stuttgart noch frei, die sie
zugunsten der vielversprechenderen Assistenz in Frankfurt ausgeschlagen hatte.
»Nein!« hallte es trotzig auf dem leeren Flur
wider. Sie hatte sich für diesen Beruf und diese Stadt entschieden. Aufgeben
kam nicht in Frage! Entschlossen ging sie nach unten und teilte den beiden
Wachbeamten mit, daß sie im Rapunzelgäßchen Nummer 5 zu logieren beabsichtige
und Polizeirat Franck eilten neuen Termin nach dort melden solle. Die Männer
starrten . sie an, als habe sie den Kaiser geduzt. Sie wartete eine Antwort
erst gar nicht ab und ging.
Der Regen war stärker geworden und der Himmel
in der Dämmerung fast schwarz. Mit der Trambahn fuhr sie zurück
zum
Centralbahnhof, dessen Eingänge noch immer polizeilich überwacht wurden. Das
Vestibül bestreifte ein Beamter, der jeden männlichen Reisenden mit Argusaugen
musterte. Unbehelligt löste Laura ihren Koffer aus. Im Lichtkegel einer Lampe
suchte sie in ihrem Stadtführer nach dem Rapunzelgäßchen.
»Kann
ich Ihne helfe, gnädisches Frollein?« fragte ein schnurrbärtiger Perronwärter.
Laura
hielt ihm die Karte hin. »Wenn Sie mir bitte zeigen könnten, wo sich das
Rapunzelgäßchen versteckt?«
Lächelnd
deutete er auf ein Straßengewirr in der Nähe des Rathauses. »Ei, do isses doch!
Gleich beim Fünffingerplätzi. Awwer des Fünffingerplätzi könne Sie net finne,
weil des kein offizielle Name net hat.«
»Ich
suche ja auch nicht das Fünffingerplätzchen, sondern das Rapunzel...«
»Awwer
wenn Se des Fünffingerplätzi erst gefunne hawwe, isses net mehr weit.«
Die Logik war bestechend. Laura faltete die Karte zusammen,
»Am
beste nehme Sie die Droschke bis zum Paulsplatz, dann gehn Se zum Römer un
gradwegs üwwer'n Sammstachsbärch, un dann um die Eck rum.«
Laura hatte
keine Ahnung, was sie sich unter einem Sammstachsbärch vorstellen
sollte. Aber für weitere Exkurse in die Frankfurter Geographie war es ihr zu
kalt. Sie nahm ihren Koffer. »Vielen Dank. Sie haben mir sehr geholfen.«
»Wenn
Sie wolle, kann ich Ihne noch e bissi mehr von unserm scheene Frankfort
erzähle, Frollein.«
»Das
ist wirklich nett, aber es ist spät, und ich habe einen dringenden Termin«, log
Laura und verabschiedete sich. Als sie den Bahnhof verließ, fing es an zu schneien.
Das nasse Straßenpflaster glänzte im Schein der Laternen.
»Hawwe
Sie schon von dem schreckliche Mord gehört?« fragte der Kutscher, als er Lauras
Koffer verstaute.
»Ja,
sicher.« Sie rieb ihre Hände aneinander. Ihre Handschuhe waren entschieden zu
dünn für diese Jahreszeit.
»Es is einfach net zu fasse! Am hellichte Mittach! Un der Herr
Lichtenstein war so'n feine Mensch!«
»Ja«,
sagte Laura. Sie war müde, sie hatte Hunger, und ihr war zum Gotterbarmen kalt.
Und das letzte, was sie interessierte, waren die Hypothesen eines
Droschkenkutschers zu einem Mordfall. »Ich muß zum Paulsplatz.«
»Die
letzt' Station«, sagte der Mann und schloß den Schlag. Laura war froh, daß sie
der einzige Fahrgast war. Sie machte die Augen zu und öffnete sie auch nicht,
als zwei Herren zustiegen, die sich, wie konnte es anders sein, über den Mord
an dem netten Herrn Lichtenstein erregten. Am Paulsplatz fragte sie einen
Mann, der einen Handkarren mit Werkzeug hinter sich herzog, nach dem
Rapunzelgäßchen. Er bot an, sie hinzubringen.
Lächelnd
zeigte sie auf den Karren. »Und was machen Sie damit?«
»Ei,
stehe lasse«, sagte er gleichmütig.
»Und
wenn ihn jemand stiehlt?«
»Ach,
gehn Se fort, des aal Gelerch klaut doch niemand«, sagte er und ermahnte sie
eindringlich, daß es gefährlich sei, abends allein durch die Stadt zu laufen.
»Bei dem üble Diebsgesindel, wos sich hier alleweil erumtreibt!« Er nahm
Lauras Koffer und marschierte so flott los, daß sie Mühe hatte zu folgen. Sie
gingen über den Rathausplatz in eine schmale Straße, von der eine noch
schmalere Straße abzweigte, in der die Häuser so eng beieinanderstanden, daß
Laura das Gefühl hatte, die Giebel müßten sich irgendwo über ihr berühren.
»Wo
wolle Sie denn genau hin?« fragte ihr Begleiter.
Laura
sah ein, daß es zwecklos wäre, ihm zu sagen, daß sie die restlichen Meter auch
alleine zurücklegen könne. Sie nannte die Hausnummer, und er blieb vor einem
Fachwerkhäuschen stehen, das aussah,
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