Halbe Leichen (Ein Lisa Becker Krimi) (German Edition)
Erklärung dafür: Das Patriarchat war schuld. Weil Frauen es in dieser Männerwelt seit ewigen Zeiten nötig haben, sich einen Mann zu angeln, um gut leben zu können, sind Frauen untereinander stets auch Rivalinnen – sogar Mütter und Töchter. Emanzipation und der Eintritt der Frauen in die Berufswelt hatten daran noch nicht viel geändert. Das war Rosies Erklärung dafür, warum sie nur wenige weibliche Freunde hatte – und einen unendlichen Tross an männlichen.
Solche Erklärungen hatte Rosie für praktisch alles parat. Seit ihrer Scheidung vor 30 Jahren war sie überzeugte Feministin, verpasste keine Veranstaltung des Berliner Frauenmuseums, ging zu jeder Lesung und las alle Zeitschriften, die es zum Thema Geschlechterkampf gab. Wenn sie nicht gerade mit einem mindestens fünfzehn Jahre jüngeren Mann in der Kiste war. Sie sah gar nicht ein, warum sie Männer ihres Alters an ihre Wertsachen lassen sollte. Leberfleckige, runzlige Pranken, die ihre weichen Rundungen abgriffen – das brauchte sie nicht. Sven machte es immer sehr nervös, wenn sie mit ihm flirtete. Aber sein Herz war nun mal vergeben, und eine rein fleischliche Zusammenkunft konnte er sich einfach nicht vorstellen.
Das etwas exzentrische Quartett hatte Quartier bezogen. Auf zwei Decken verteilt streckten sich die vier Menschen aus, tranken Kaffee aus Thermoskannen und sprachen über die Welt, Gott und den Rest. In Gegenwart ihrer gut gepolsterten Freundinnen verzichtete Lisa darauf, sich flach auf den Rücken zu legen, wie sie es sonst tat, wenn sie alleine im Freibad oder am Strand war. Die Art und Weise, wie sich all ihr überschüssiges Körperfett in einem mächtigen Wulst über ihren Hüften sammelte, war nicht gerade dazu geeignet, ihr Körperbewusstsein in ungeahnte Höhen zu katapultieren. Aber sie trug einen Zweiteiler, denn sie wollte braun werden. Gebräunt sah frau dünner aus, es stimmte nun mal. Auf ihren Bikinifotos sah die verschrumpelte, gebräunte Uschi Glas aus wie eine frisch ausgewickelte Mumie. Beneidenswert.
Sie sprachen über das Sozialprojekt einer Kirchengemeinde, über das Sven gerade recherchierte.
„ Wenn alle Pfaffen so wären wie dein Typ in Marzahn“, meinte Rosie zu Sven während sie ihm den Rücken einrieb, „wäre ich vielleicht auch noch in dem Verein. Aber grundsätzlich hab ich kein Interesse an der Meinung von Leuten, die mir sagen, ich soll mein Leben lang mit einem saufenden, prügelnden Arschgesicht zusammenleben, nur weil ich das mal vor einem Altar versprochen habe.“
„ Ich bin da ja nicht wegen der scheiß Religion“, stöhnte Sven unter den Händen der älteren Frau, die ihre Ölbehandlung gleich in eine ausgedehnte Massage ausdehnte. Er döste entspannt vor sich hin und ließ die Damen quatschen, wie Männer das nun mal tun.
„ Nicht jede Religion ist Mist“, meinte Christiane. „Ich meine, ich bin raus aus der Osho-Gemeinschaft und hab wieder meinen Originalnamen, aber ich geh trotzdem noch zum Meditieren und besuche Erleuchtete, wenn sie in die Gegend kommen. Das hilft.“
„ Ja“, brummte Lisa, „aber die Erleuchteten schreiben dir nicht vor, was du denken, fühlen, essen oder bumsen sollst.“
„ Sie machen Vorschläge in der Richtung“, schränkte Christiane freiwillig ein. „Es gibt ja schon Ernährungsideen wie Ayurveda, aber das ist so teuer. Und ich mag Fleisch zu gern. Hab nicht den Gaumen für Vegetarismus.“
„ Ich schon“, sagte Rosie, „aber ich hätte wohl nicht damit angefangen, wenn mein herzallerliebstes Töchterlein es mir nicht eingetrichtert hätte.“
„ Weiß sie schon, auf welche Uni sie will?“ fragte Lisa.
„ Ich hoffe Bochum. Wenn sie da nicht hingeht, will sie nach Hamburg, und das ist viel zu weit.“
„ Dein Leben als Mama ist also jetzt langsam vorbei“, sagte Christiane. „Wie war es denn so, als alleinerziehende Mutter?“
Rosie strahlte. „Das ist ohne jede Einschränkung das beste, was ich je gemacht habe. Ich glaube, daran habe ich nie einen Zweifel gelassen, oder?“
Wirklich nicht. Steffi war großartig geraten, das mussten Lisa und Christiane neidlos anerkennen. Eine ruhige, liebe junge Frau, intelligent und höflich, die perfekte Tochter. Wie die flippige, selbstbewusste Schlampe Rosie das gemacht hatte, war reichlich unverständlich, aber angeblich wurden ja die Kinder immer wie die Väter, und da dieser Vater sich schon lange nicht mehr in Deutschland aufhielt und sehr wenig Kontakt zu Steffi hatte, beließ man es
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