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Halsabschneider. Kadir Bülbüls erster Fall

Halsabschneider. Kadir Bülbüls erster Fall

Titel: Halsabschneider. Kadir Bülbüls erster Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Fu , Asmin Deniz
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lernen.«
    »Oh,
ja!« Nevin lehnte sich noch ein Stück vor und sah Kadir eindringlich in die
Augen. »Ich möchte Ihre ganze Familie kennen lernen, unbedingt. Von Ihrer
Schwester kann ich mir sicher noch eine Scheibe abschneiden – ich war nie ein
Mädchen, das sich gewünscht hat, in den Slums von Kalkutta oder in den Favelas
von Rio ein Engel in Weiß zu werden. Oder denken Sie nur an die Organisation Ärzte
gegen den Tod ! Ich habe die Leute immer beneidet, die solche Träume hegten.«
    Bullshit, antwortete die dunkle Stimme
seiner Schwester, und Kadir hörte ihr rauchiges Kaskadenlachen durch den Raum
schallen. Er stand auf ohne Nevin anzusehen, räumte die Wassergläser klirrend
auf das Tablett. Als stünde Sevda direkt neben ihm, ihre kräftigen Arme um
seine Schultern gelegt: Bullshit !, kicherte sie ihm erneut ins Ohr. Jeder
weiß, dass die Ärzte gegen den Tod ihre Köfferchen so eifrig in arme
Länder schleppen, damit sie endlich mal nach Herzenslust das Schlachtermesser
ansetzen und ausprobieren dürfen, was zu Hause nie ginge. Hält die mich für
eine verdammte Charity Lady, oder was?
    »Es
ist wunderschön hier, und was für ein herrliches Essen!«
    Nevin
lehnte sich zurück und blickte über die Klippen in Richtung Dereköy. Die Hotels
lagen wie eine blinkende Lichterkette in die Bucht geschmiegt, doch zwischen
Dereköy und dem Restaurant befand sich ein nachtschwarzer, etwa zehn Kilometer
Strandabschnitt, der zu den vereinzelten Villen und Standhäusern gehörte, die
sich an die Klippen und das hügelige Hinterland schmiegten.
    »Hören
Sie die Zikaden? In Dereköy scheinen sie verschwunden, oder man hört sie
einfach nicht in all dem Trubel.«
    »Sie
wohnen zu nah an der Uferpromenade, bei mir in der Altstadt ist es herrlich
ruhig bis auf...«
    »...
die Kinder, die schnatternden Frauen vor ihren Häusern und eine Million
Fernseher, die bei geöffnetem Fenster die Straße beschallen!«, lachte Nevin.
    »Sie
hören sich an wie eine Fremde in Ihrem eigenen Land! Fast so wie ich.«
    Kadir
lehnte sich zurück und bewunderte die von Kerzenschein samtig schimmernde Kurve
von Nevins Wange, ihre hohe, intelligente Stirn und das schwere Haar, das ihr
über die Schultern floss. Eine unbändige Lust überkam in, mit beiden Händen
hineinzugreifen, wie damals als Kind, als er bis zu den Armen im nassen Sand
wühlte, bis Sevda sich auf seinen Rücken warf und ihn durchkitzelte, und er
schrie und jaulte in begeisterter Panik, denn seine dünnen Armen steckten in
dem von ihm gegrabenen Tunnel fest und Abwehr war unmöglich! Jedes Jahr im
Sommer, wenn die Familie die Großeltern besuchte, war er als erstes an den
Strand gerannt und hatte die Meeresluft eingesogen als wäre er am ersticken,
ehrfürchtig und mit brennenden Augen. Dann rasch hinauf zu seinen
Lieblingsfelsen, unter denen das Wasser gurgelte, als hätte jemand einen großen
Badewannenstöpsel gezogen. Kleine Krebse huschten seitlich an seinen Füßen
vorbei und Kadir zog die Zehen ein, um sie nicht in ihrem Lauf zu stören. Alles
war wie immer und er atmete auf.
    Doch
eines Sommers, er war vierzehn oder fünfzehn Jahre, lief er wie immer voller
Erwartung und Ungeduld nach der langwierigen und umständlichen Begrüßung seiner
Großeltern an den Strand und blieb atemlos stehen. Während er die Kinder
beobachtete, die in der Brandung spielten, dachte er an Annika, der er kurz vor
der Zeugnisausgabe mit zitternden Fingern einen Freundschaftsring überreicht
und mit sorgfältig ausgewählten Worten einen schwülstigen Heiratsantrag gemacht
hatte. Annika hatte seinem Antrag mit großen Augen gelauscht, nachdenklich
ihren Kaugummi von einer Backe in die andere geschoben und dann eine riesige
Blase gemacht, die mit einem Knall zerplatzte und ihre Nase und das Kinn
verklebte. Dies schien deutlich zu signalisieren, dass an Heirat erst einmal
nicht zu denken war und Kadirs Herz sank. Du bist aber sonst ziemlich
niedlich , hatte sie ihm mit klebrigem Mund ins Ohr geflüstert, und nach
den Sommerferien können wir ja offiziell miteinander gehen. Bin noch nie mit
einem Türken gegangen, echt schräg!
    Nun
war Annika mit ihren Eltern zum Wanderurlaub in Bayern und Kadir stand am
Strand und spürte, dass die salzige Luft nach Urlaub aber nicht mehr nach
Heimat schmeckte, er sah, dass er die Kinder im Wasser nicht kannte, sie
mussten lange nachdem er fortgegangen war zur Welt gekommen sein. Mit seinen
Eltern und Geschwistern war er heute mit dem Bus vom Flughafen nach

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